Film des Monats

Der längste Kuss


Film des Monats Juli 2015

In seinem Film »Der längste Kuss« fragt Hubert Sielecki mit Gerhard Rühm nach dem Sinn spektakulärer Rekordversuche, der Einheit von Sprecher und Stimme und danach, was eigentlich ein Kuss ist.

Die 90er Jahre werden mir immer als das Jahrzehnt der Guinness-World-Records in Erinnerung bleiben. Klar, in den 90ern gab es auch Suzanne Vega, den Wu-Tang-Clan und Sammelbilder von Ayrton Senna zum Tauschen. Aber jene Rekordjagden haben meine Wahrnehmung der 90er, meine retrospektive Wahrnehmung, stärker geprägt. Die Rekordjagd hat seitdem für mich einen aufmerksamkeitsheischenden, schmierigen Beigeschmack, wird immer mit den billig glitzernden Papp-Einbänden der großformatigen Rekordbücher verbunden bleiben, die bei meinen Klassenkameraden und mir hoch im Kurs standen. Mit der Zeit sind mir Rekorde per se suspekt geworden; die größte Tomate, der längste Fingernagel, die längsten Fingernägel, der höchste Sprung von einer Rampe aus Raviolidosen und was da Rekorde mehr sein mögen. Die Dekontextualisierung, die der Rekordversuch im Bereich alltäglicher Handlungen vornimmt, geht unter im Getöse der Vermarktung; die eigentliche Handlung, sei es das Stricken des größten Pullovers oder die längste Angelpartie ohne Schlafen und Defäkieren, verschwindet hinter Personalisierung, Eventisierung oder der Dienstbarmachung des Rekordversuchs für einen Zweck, der der rekordfähig gemachten Alltagshandlung häufig vollkommen fremd ist. Eine Dekontextualisierung wird also vorgenommen, aber in den seltensten Fällen eine solche, die uns über zweckfremde (emotive, ästhetische) Qualitäten alltäglicher Handlung nachdenken lässt.

Hubert Sieleckis Film Der längste Kuss ist eine große Dekontextualisierungsmaschine. Sielecki verwendet für seinen Film eine Partitur von Gerhard Rühm, die dieser und Monika Lichtenfeld eingesprochen haben. Rühms Partitur basiert auf einer Pressemeldung, die den Rekordversuch für den weltweit längsten Kuss zum Thema hat. In seiner Partitur arbeitet Rühm mit zum Ende hin sich beständig steigernden Wort- bzw. Wortgruppenwiederholungen, analog zur stimmlichen Darstellung im gleichnamigen Poesiefilm. Die der Partitur zugrunde liegende Repetitionsfigur hat eine enorme Verfremdung des Textmaterials zur Folge. Diese lenkt die Aufmerksamkeit sowohl auf die sachliche Lexik und den pseudowissenschaftlichen Duktus der Pressemeldung, als auch auf die klanglichen Qualitäten des Sprachmaterials.

In der (bildlichen) Ersetzung Lichtenfelds und Rühms durch ausnahmslos von Sielecki gespieltes Spitals-Personal, dessen Vertreter für die Stimmen jener stehen, setzt Sielecki die zweite Verfremdung ins Werk. Dieses sozusagen pantomimische Verfahren im Stile eines ›Playback‹ verwendet Sielecki häufiger; beispielsweise in den Filmen der kurator* und der minister** – mit dem Unterschied, dass es in diesen Filmen nur einen (jeweils von Sielecki gespielten) Darsteller gibt, nicht wie in Der längste Kuss mit zunehmender Wiederholungsintensität zu Anfang zwei, zum Ende acht. Rühms Partitur, die nur von zwei Stimmen, einer weiblichen und einer männlichen, gesprochen wird, faltet sich im Film sozusagen auf, aus zwei Stimmen erwachsen nach und nach acht Sprecher – vier ›weiblich‹, vier ›männlich‹ kostümierte. Dies verstärkt die Dissoziation von visuellem Sprecher und auditiver Stimme erheblich. Jene Dissoziation hat einen paradoxen Effekt: durch die mangelnde Verknüpfung von Gehörtem und Gesehenem, oder, besser gesagt, durch den Zweifel an der Einheit jener, wird die Aufmerksamkeit einerseits stärker auf Habitus, Gestik etc. des bzw. der scheinbar Sprechenden gelenkt, andererseits aber auch auf den Zweifel am Text, auf dessen klangliche Qualitäten und so fort, es konstituiert sich ein Zustand des Schwankens zwischen Bedeutung, Klang und Bild, und diese können nicht endgültig integriert werden. Der Zuschauer und Hörer bleibt im Modus des Zweifels gefangen und realisiert die visuellen und klanglichen Elemente nicht als Einheit, sondern als einzelne Elemente, zwischen denen die Aufmerksamkeit schwankt, ohne dem einen gegen das andere Gültigkeit zusprechen zu können.

Die Absurdität des Rekordversuchs, insbesondere der einem Kuss unangemessene medizinische Slang und schließlich auch die jenem vollkommen unangemessene Instrumentalisierung des Rekordversuchs durch einen Apothekerverband werden durch die Darstellung der Sprecher,  durch medizinisches Personal zusätzlich konterkariert. Ein großartiger Einfall Sieleckis, der die stark konzeptuelle Anlage sowohl der Partitur als auch des ›Playback‹-Films um eine überaus unterhaltsame humoristische Komponente bereichert. Mittlerweile hat Sielecki nach einem Konzept von Gerhard Rühm einen weiteren Film hergestellt – Der längste Kuss – Version 1 von Gerhard Rühm.*** Dieser unternimmt lediglich eine graphische Darstellung der Paterns der Partitur. In dieser Reduziertheit sicherlich auch ein reizvoller Zugang zur sprachlich-musikalischen Konzeption der Partitur. Aber längst nicht so anregend, wie acht ältere Krankenhausmitarbeiter, die mit gewichtiger Gestik über den Bakterienaustausch während eines Kusses dozieren.


* Siehe Hubert Sielecki: der kurator, Ö 2011.
** Siehe Hubert Sielecki: der minister, Ö 2011.
*** Siehe Hubert Sielecki/Gerhard Rühm: Der längste Kuss – Version 1.

Auszug aus der Partitur

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Partitur als wiederholungsbereinigter Fließtext

der längste kuss der welt währte dreissig stunden, neunundfünfzig minuten und siebenundzwanzig sekunden. clara und hannes, die einander erstmals am einundzwanzigsten november neunzehnhundertsechsundachtzig küssten, wollen diesen weltrekord am valentinstag, dem vierzehnten februar, brechen. der weltrekordversuch wird vom apothekerverband organisiert. die apotheker wollen damit für bessere mundhygiene werben. sie wiesen darauf hin, dass bei einem normal-kuss vierzigtausend parasiten übertragen würden, neun milligram wasser, zudem ein wenig fett, eiweiß, salz, und zweihundertfünfzig bakterienarten. der apothekerverband legte sich auf clara und hannes fest, weil diese mit achtunddreißig und einundvierzig jahren erfahren seien. beim weltrekordversuch dürfen die beiden weder liegen noch sitzen noch auf die toilette gehen.

Aus: Gerhard Rühm: Der längste Kuss. In: Kolik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 50/14 (2010), S. 115–122

Informationen zum Film

Über den Autor

moritz-klein1.jpgMoritz Gause wurde 1986 in Berlin geboren und wuchs dort, in Brandenburg und in Thüringen auf. Er studiert Komparatistik in Jena und betreut seit 2011 gemeinsam mit Romina Nikolić das Literaturprojekt Wortwechsel. 2013 erhielt er das Arbeitsstipendium des Freistaates Thüringen.