Film des Monats

LONG RONG SONG

Film des Monats Juli 2017 •

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it LONG RONG SONG setzt Ottar Ormstad seine Erforschung der visuellen Poesie fort. Der Film ist 2015 in einer Zusammenarbeit des norwegischen Dichters mit dem russischen Musiker Taras Mashtalir und dem Animationskünstler Alexander Vojjov enstanden.

Von der konkreten und visuellen Poesie führt ein direkter Weg in die elektronische bzw. digitale Spielart derselben. In der visuellen Poesie wird die Sprache vor allem als sichtbares Sprachmaterial untersucht. Die Lineaturen der Worte stehen im Zentrum. Indem das Schriftzeichen in seiner Räumlichkeit thematisiert wird, wird die Selbstverständlichkeit, mit der wir voraussetzen, dass sich mit sichtbaren und hörbaren Worten Gedanken und Begriffe kommunizieren lassen, infrage gestellt.

In Norwegen ist Ottar Ormstad (Jg. 1947) diesen Weg von der konkreten zur digitalen Poesie gegangen. In theoretischer Hinsicht folgt er dabei Überlegungen des US-amerikanischen Fluxus-Künstlers Dick Higgins (1938–1998): »Today I prefer the terminology of Higgins. I think that not using ›concrete‹ in opposition to ›visual‹ avoids many discussions about definitions that may take away the focus from the spotlight on poetry.«

Obschon Ormstad bereits Ende der 1960er Jahre erste Texte konkreter Poesie in norwegischen Anthologien veröffentlicht hatte, ist er jedoch erst Ende der 1990er Jahre mit eigenen Büchern hervorgetreten. Es folgten Videopoeme und Ausstellungen fotografischer und grafischer Kunst. Ormstad betrachtet seine filmischen und digitalen Experimente – zu nennen sind bsplw. die Filme het still (2003), y (gul poesi) (2005), when (2011) oder natyr (2013) – als konsequente Weiterentwicklungen seines früheren Schaffens.

In LONG RONG SONG arbeitet er zum ersten Mal mit dem Musiker Maras Mashtalir als norwegisch-russisches Duo OTTARAS zusammen, das noch durch den russischen Videokünstler Alexander Vojjov verstärkt wird. Der Film existiert in verschiedenen Versionen für Screening und Live-Performance. Letztere erlebte ihre Uraufführung beim Festival elektronischer Literatur in Bergen/Norwegen 2015.

Im Video liest Ormstad einen Zyklus von 5 Gedichten, die aus Kombinationen von vier Buchstaben bestehen und ein künstliches Sprachsystem bilden. Die Formsprache der Buchstaben schließt an seinen früheren Band AUDITION FOR FENOMENER UTEN BETEGNELSE (Audition für Phänomene ohne Namen) aus dem Jahr 2004 an. Hier verwendete er die Herald Gothic Font, um je vier Buchstaben in Viererquadraten variieren zu können. Das durchaus ernstgemeinte Unterfangen geschah in humorvoller Absicht. Durch Permutation von Buchstaben entstehen teilweise bedeutungstragende Wörter, teilweise Wörter, von denen man denken könnte, dass sie Bedeutungen haben und solche, die sicher keine besitzen. Die Gleichzeitigkeit von Bedeutung und Nicht-Bedeutung sowie die Zufälligkeit ihrer Generierung erzeugen ein ständiges semantisches Oszillieren.

In LONG RONG SONG werden die Buchstabenvariationen in ein kosmisches Geschehen eingebettet. Bei den Weltraumbildern geht es allerdings nicht um die Mimesis des äußeren Sternenhimmels, sondern um den Entwurf eines eigenen Sinnkosmos, eines digitalen Zeichenuniversums. Dadurch unterscheidet sich der Poesiefilm von 2015 deutlich von seiner analogen Buchvorlage von 2004. Indem das Prinzip der zufälligen Bedeutungserzeugung durch Permutation von Buchstaben aus dem Kontext der Buchkultur in den der digitalisierten und globalisierten Kommunikation überführt wird, lässt sich der Grund für dieses Prinzip neu interpretieren: In der Unendlichkeit des Digitalen, in der Raum und Zeit, Realität und Simulation verschwimmen, herrschen andere Sprachgesetze; Gesetze, die mächtiger sind als wir.

Die semantischen und typografischen Gestaltungsprinzipien führen natürlich nicht zum Entwurf einer neuen Sprache, wenngleich überraschend bedeutsame Kombinationen dieses nahelegen könnten. In LONG RONG SONG geht es vielmehr um eine Reflexion auf den veränderten Status der Sprache im digitalen Zeitalter. Wörter erscheinen hier nicht als Produkte menschlicher Kommunikation, sondern Sprache und personale Identität – darauf verweisen die Einblendungen von Gesichtern auf Ausweisen – werden digital gesteuert. Es sind die computergenerierten Codes und Algorithmen, die unsere Wirklichkeit inzwischen beherrschen. Lässt man sich auf diese Reflexionsebene ein, ist LONG RONG SONG im besten Sinne ein meditatives ›seh-denk-stück‹ (Siegfried J. Schmidt) unserer Gegenwart, das uns mit den Mitteln einer weiterentwickelten visuellen Poesie zum Nachdenken anregen will.

Informationen zum Film

    • LONG RONG SONG
    • Norwegen 2015, 05:26 min
    • Animation: Alexander Vojjov
    • Musik: Taras Mashtalir
    • Produktion, Text u. Voice-over: Ottar Ormstad

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Ottar Ormstad: Playing with letters and fonts