Film des Monats

Continental Drift

Film des Monats April 2018 •

Ein Mann ringt mit seinen Erinnerungen an Krieg, Grenzüberwindungen und die Gewalt gegenüber Asylsuchenden. Er kämpft für seine Familie, doch kam diese beim Überqueren des Meeres ums Leben. Nayeem Mahbubs Poetryfilm »Continental Drift« lässt etwas von der unheimlichen und unversöhnlichen Stimmung erahnen, mit denen das Schicksal der Flucht viele Menschen belastet. Und er erzählt zugleich über uns und unsere Schwierigkeiten, diese Stimmung zu erfassen. 

Flucht und Migration werden in den Poesiefilmen der letzten Jahre vielfach behandelt. Ein prominentes Beispiel liefert der UNHCR Kampagnenfilm What They Took With Them von 2016* nach dem gleichnamigen Gedicht der britischen Autorin Jenifer Toksvig. Unter der Leitung von Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett wirkten befreundete Stars wie Keira Knightley bei der Rezitation des Gedichts mit. Visuell besteht der Film aus Dokumentaraufnahmen aus Krisengebieten sowie eindrucksvollen Bildern des US-amerikanischen Fotografen Brian Sokol und seiner Fotoserie The Most Important Thing, die bereits als Vorlage für das Gedicht Toksvigs gedient hatten. Neben den Dingen und Gegenständen, welche die Flüchtlinge mit aus ihren Häusern gerettet und auf den Weg genommen haben, stellen Fotografie und Film besonders das Gesicht des Einzelnen in den Mittelpunkt.

Ästhetisch ist der Film, der inzwischen über 2 Millionen Aufrufe allein auf Facebook erhalten hat, ein aufrüttelnder Kampagnenfilm. Die ungenannten Regisseure der UNHCR arbeiteten mit gängigen Mitteln der Zuschauermanipulation. Und das hat gewirkt. Der Film gehört zu den erfolgreichsten Poesiefilmen der letzten Jahre. Als Zuschauer fühlt man sich jedoch durch die dominanten Appelle von vornherein fremdgesteuert. Es ist Propaganda für die gute Sache.

Dass es auch anders geht, beweist der Film Continental Drift eines jungen Filmemachers aus Bangladesch. Gegenüber der aufwendigen UNHCR-Produktion mit Starbesetzung setzt der low budget-Film von Nayeem Mahbub auf eindringliche, leise und subtile Töne. Letztlich berührt er stärker als der Kampagnenfilm, weil er darauf verzichtet, mediale Bilder zu reproduzieren.

Nach dem Studium in Bangladesch absolvierte Nayeem Mahbub das EU-geförderte Master-Programm ›Doc Nomads‹ – ein spezielles Programm für Dokumentarfilmer, das über zwei Jahre sowohl in Portugal, Ungarn und Belgien stattfand. Im Rahmen dieses Programms wollte Mahbub einen Dokumentarfilm über belgische Flüchtlingsheime drehen. Es sollte ein narrativer Film werden. Doch aus den Notizen entstand schließlich etwas ganz Anderes – ein eigener Text, den Mahbub mithilfe seines Freundes Sohel Rahman weiterentwickelte. Es entstand ein ›Poetryfilmtext‹, der wie ein Liedtext nur im Zusammenhang mit Bild und Ton seine Wirkung entfaltet und der nicht den Anspruch erhebt, ein autonomes Gedicht zu sein. Mit seiner Listenstruktur erzählt dieser Text keine geschlossene Geschichte, sondern bietet Fragmente von Eindrücken an, die letztlich in die Sprachlosigkeit zurückführen.

Bei der Produktion des Films standen jedoch weder Text noch Bild am Anfang. Die aus dem ›Doc Nomads‹-Programm vorgegebene Aufgabenstellung war vielmehr, einen Kurzfilm im Ausgang von der Tonebene zu drehen. Und es ist daher vor allem der Ton, der die Spannung des Films trägt. Auf einen dramatischen Einsatz (bei 00:22) folgt ein langer E-Piano-Ton, der über fünf Minuten weiterklingt (bis 5:33). Ab Minute 2:30 hören wir 29 mal alle 7-8 Sekunden ein detonationsartiges Geräusch, das im Abspann weiterklingt und mit dem der Film schließt. Der dramatischen Tonebene korrespondiert der seriell aufgebaute Text, der durch die 33fache Wiederholung des bengalischen Wortes für »hier« Struktur gewinnt.

Auf der Bildebene lässt sich der Film in drei Teile gliedern: Nachtaufnahmen in Brüssel bilden den Anfang, ehe wir im Mittelteil die Sonne aufgehen sehen. Hier bewegt sich die Kamera teils auf der Straße, teils in Räumen. Im Schlussteil fährt der Beobachter in einer Straßenbahn. Das Farbschema und die aus dem Gleichgewicht geratenen Bildeinstellungen, meist in der Totalen und Halbtotalen (Nahaufnahmen finden sich kaum) erzeugen ein Gefühl des Schwankens und der Unsicherheit. Dadurch repräsentieren und referieren die Bewegtbilder nicht einfach, sondern bekommen ein »eigenes Gewicht und einen selbständigen Wert« (Roman Jakobson).

Für Mahbub ist das Gefühl des politischen und kulturellen Auseinanderdriftens der Kontinente bedeutsamer als die Abbildung von Einzelschicksalen. Mit einer hohen Ökonomie der Mittel lässt er aus einfachsten Effekten kraftvolle Wirkungen entstehen und schafft es dabei gleichzeitig, die komplexe Situation des Jahres 2015 einzufangen: Das kollektive Atemanhalten, die Schockstarre und die Nervosität, die Unfähigkeit zur Kommunikation und das latente Bedrohungsgefühl bei gleichzeitigem Willen zur Sympathie auf der einen Seite und die Traumatisierung durch Krieg, Flucht und Schleusertum, den Verlust von Familienangehörigen und die Erinnerung an die Toten auf der anderen.

Der Rhythmus und die Worte des Textes geben die Raserei, das Chaos und die Angst wieder, das eigene Zuhause verlassen und das Wenige mitnehmen zu müssen, um in Sicherheit zu fliehen. Im Unterschied zum eingangs erwähnten UNHCR-Kampagnenfilm folgt daraus jedoch kein Appell. Continental Drift bietet dem Zuschauer Raum für Nachdenklichkeit, für eine Reflexion auf die Situation vieler Migranten und der Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen.


* UNHCR-Kampagnenfilm What They Took With Them (US 2016, 5:24 min).

Continental Drift
Nayeem Mahbub
Here in the rain
Here is a man on fire.Here in the rain
Strangers huddle under this bus shelter.

Here is the scream he lets loose
Into the night.

Here is the flicker
Of street lights.

Here is our breath collectively held.
Here is the nervous shifting of our feet.

Here are his eyes searching
Ours. Daring us to speak.

Here is his tongue switching
to English. None of us are Belgian.

Here are his curses,
Falling at our feet.
Telling us we’re nothing.

Here are the words
That escape from his lips:
»They will never come back.«

Here is the redness in his eyes.
Here is the split second in which his voice breaks.

Here is Operation Desert Storm.
Here is the memory of a burning home.

Here is cash in hand
To cross the desert.

Here are months on the border
Here are kicks in teeth.

Here are close calls and gunfire.
Here is haunted sleep.

Here are new cities.
New tongues. And cold shoulders.

Here are his papers.
Hard earned. Now meaningless.

Here are years gone by
Here is money saved.

Here is a letter:
»After all these years
We can be together.«

Here is danger.
Here are bribes. Here is passage.

Here is border control. Here is a ship
Bound by international convention.

Here are a family of lungs
Drowning in the sea.

There will rise the sun.
Over the free grass, wind and sea.

There it shines. On this land.
On his land, and on mine.

There are articles.
There are speeches.

There are elections. There are bombs.
There are burning buses.

There are the drowned.
There are the saved.

Here are his hands.
Which can rip out our throats.

Here are his hands.
Which can never raise the dead.

Here in the rain
Here we are.

Über den Film
  • Continental Drift
  • Bangladesch/Belgien, 2014 • Realfilm • 6:16 min
  • Regie u. Text: Nayeem Mahbub
  • Sprache: Bengali

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