»Genau darin liegt die Spannung. Man darf sich nie wirklich sicher sein, dass man ganz und gar versteht, was man wahrnimmt.«
Jakob Kirchheims Film GELD ODER LEBEN ist unser FILM DES MONATS SEPTEMBER 2017.
Poetryfilmkanal: Wie bist Du auf Stefan Dörings Gedicht gestoßen?
Meine Lebensgefährtin (heutige Frau) Teresa Delgado studierte an der FU Berlin Germanistik und hatte damals ein Seminar zur Literatur bzw. Dichtung Ostdeutschlands belegt. Auf diesem Weg wurden wir auf die Anthologie Sprache & Antwort und andere Bücher aufmerksam.
Wie hat Döring darauf reagiert, dass Du sein Gedicht verfilmt hast?
Auf meine schriftliche Anfrage, ob ich den Film öffentlich zeigen dürfe, hat er mir ebenfalls schriftlich geantwortet, dass ich das gerne tun könne und dass es ihn freue.
Seid ihr euch je begegnet?
Ich erinnere, dass ich ihn einmal bei einer Lesung in einem leeren Gebäude in der Lehrter Straße zusammen mit Bert Papenfuß, Rainer Schedlinski, Sascha Anderson u. a. erlebt habe. Gesprochen haben wir damals nicht, der Film war auch noch nicht in Arbeit. Möglicherweise hat dieses Erlebnis mit dazu beigetragen, den Film ins Auge zu fassen.
Ein Wort, dazu ein Bild: warum hast du Dich für diese Herangehensweise entschieden?
Es handelt sich um eine überschaubare Anzahl von Worten (ca. 100) und es stand eine bestimmte Anzahl analoger S/W-Fotos zur Verfügung, die in dieser Zeit entstanden waren und die ich in keinem der parallel produzierten Filme untergebracht hatte. Zudem ist und war für mich Schrift auch Bild, will sagen: es gibt immer auch eine visuelle Dimension der Schrift, die vom Sinn eines zusammenhängenden Texts entkoppelt werden kann. Mehrere Wörter in einem Bild hätten zu sehr auf die Semantik abgestellt, das Bild dem Wort-Sinn untergeordnet.
Der Film ist nach einer Partitur entstanden, bei der die Länge jeder Einstellung bis aufs Einzelbild genau festgelegt wurde. Kannst Du etwas genauer darauf eingehen?
Es gibt dabei eine technische und eine kompositorische, künstlerische Dimension. Ein komplexes Wort-Bild (dazu zählt sicher auch die Menge der Buchstaben) erfordert mehr Filmframes (Filmzeit) als ein relativ einfaches. Technisch: das nachträgliche Zerschneiden des Filmmaterials hätte zu Staub, Kratzern, Laufstreifen und Ähnlichem geführt, was im Sinne einer glatten, ›professionellen‹ Anmutung damals zu vermeiden war. Es gehört natürlich eine gewisse Erfahrung dazu, die Filmzeit vorher einschätzen zu können und die Menge der einzelnen Frames festzulegen, den Film bereits bei der Aufnahme in der Kamera zu editieren.
Woher stammen die Fotografien und Super-8-Aufnahmen?
Es handelt sich um Bildmaterial, das ich 1990, evtl. teilweise auch früher, aufgenommen habe. Man kann die Fotos in zwei Gruppen aufteilen, einerseits Bilder und Situationen in meiner Atelierwohnung, in der Bilder, Scheinwerfer, ein Tricktisch, die Arbeitsumgebung, ich selbst und eine Art Gesten- oder Tanzperformance von Teresa Delgado zu sehen sind. Andererseits Aufnahmen vornehmlich aus dem Ostberliner Stadtraum, den wir gerade zu erkunden begonnen hatten.
Wo in Berlin sind die Außenaufnahmen entstanden? Haben diese Orte eine besondere Bedeutung für Dich?
Das spätere »Kunsthaus Tacheles« war damals das ehemalige Kaufhaus Tacheles und stand für das frühere Berlin, dass in der DDR vernachlässigt worden war und dadurch als historische Reminiszenz überlebte. Die ›Underground-Künstler‹ hatten gerade angefangen sich in dem Gebäude einzunisten. Die Zukunft liegt wohl in Investorenhand. Der Alexanderplatz ist heute, wie zu Alfred Döblins Zeiten, der Alexanderplatz und damit ein historischer Ort, der sich unter anderem durch Fassbinders monumentale Fernsehserie in die Geschichte eingeschrieben hat. Er steht, aufgrund seiner Baugeschichte in den sechziger Jahren, für das Zentrum Ost-Berlins. Der kalte Krieg der Systeme ging gerade erst zu Ende und ungläubig rieb man sich die Augen, dass jetzt das Geld, der Kapitalismus gewonnen hätte. Heutige Bedeutung: Fahre öfters mit dem Fahrrad dort vorbei und sehe Unmengen von Touristen.
Dadurch, dass Geld oder Leben viele Aufnahmen von Dir und Deiner Arbeitsumgebung zeigt, hat er eine sehr persönliche Anmutung. Ist der Film mehr auf Deine damalige Situation als Künstler bezogen, auf die politischen Geschehnisse des Umbruchs – oder würdest Du ihn noch allgemeiner verstehen?
Ich verstehe ihn im aller-allgemeinsten Sinn einer lebenslangen Dualität. Allerdings zeichnet er beides auf, meine persönliche Situation und die damaligen Umbrüche oder das noch-Dasein der DDR. Heute könnte ich diesen Film nicht mehr so machen. Man steht immer in seiner Zeit und die schreitet voran, es handelt sich insofern um ein Zeit-Bild.
An zwei Stellen gibt es Bewegtbild-Sequenzen. Hat das einen bestimmten Grund?
Das Schema brechen, den Blick lockern, Fragen aufwerfen. Außerdem schließen die Bewegtbilder an die Orte auf den Fotos an, ergänzen sie und holen die Kunstwelt der Wort-Bilder in die damalige, sog. sichtbare Normalität zurück. Konzipiert bereits durch die Aufblende aus dem Weiß im Text-Bild-Teil, muss wohl vorher so überlegt worden sein.
Du zeigst in einigen Bildern Filmstills mit Untertitelung. Aus welchem Film stammen die Stills? Warum zitierst Du diesen Film?
Es handelt sich um ein asiatisches Road-Movie, das ich im Arsenal-Kino (als es noch in der Welserstraße war) gesehen habe; Titel: unbekannt. Mir erschien die Doppelung der Schrift durch Untertitel am Ende des Films reizvoll, als würde sich eine weitere ›Stimme‹ einmischen. Das funktioniert am Ende, zwischendrin hätte es wohl irritiert bzw. uneingelöste Erwartungen geweckt. Der konkrete Film spielt dabei keine Rolle, aber die beiden Untertitel-Sätze passten zur Stimmung.
Es ist schwierig, der Wort- und der Bildebene gleichzeitig zu folgen. Hast Du das bewusst provoziert?
Ja, genau darin liegt die Spannung. Man darf sich nie wirklich sicher sein, dass man ganz und gar versteht, was man wahrnimmt.
Konzentriert man sich auf das Lesen und die Bedeutung, zieht man die Konzentration von den Bildinhalten ab. Ist Dir das egal?
Man sieht immer beides. Wer nur lesen, verstehen will, tut sich Gewalt an und schafft es trotzdem nicht, nur zu lesen. Im Gegenteil, die Bilder (in diesem Sinn der fotografische Teil der Bilder) wirken unwillkürlich im Unbewussten mit.
Du beschäftigst Dich als Künstler mit dem Medium Film. Wie bist Du auf den Film als Ausdrucksmittel gestoßen und wie würdest Du Deinen besonderen Zugang zu diesem Medium beschreiben?
Das ist ein weites Feld. Als studiertem Maler, dessen Eltern eine Buchhandlung und einen Verlag betrieben, war mir Literatur immer nahe. Darüber hinaus waren es die Zeiten des »Alle Macht der Super-8« und des deutschen Autorenfilms. Im Film sah ich eine Möglichkeit meinen bildnerischen Kreationen, eine weitere narrative Ebene hinzuzufügen. Es ist ja auch praktisch, im Freundeskreis (später allgemein vor Publikum) mehrere große Bilder hintereinander ablaufen zu lassen und in Beziehung zu setzen, anstatt auf engem Raum ein Ölbild nach dem anderen auf- bzw. auszustellen und wieder wegzuräumen. Wenn der Super-8-Film einmal erfolgreich (was nicht selbstverständlich ist) eingefädelt ist, dann läuft er meist (Stichwort: Filmriss) auch ab. In den vergangenen 30 Jahren haben sehr viele technische Neuerungen stattgefunden, die die Filmproduktion enorm beeinflusst, wenn nicht gar von den Füßen auf den Kopf gestellt haben. Aber auch eingeschränkte Möglichkeiten provozieren kreative Lösungen, auf die man bei anderem Technikstand gar nicht gekommen wäre, das Problem hätte gefehlt.
Geld oder Leben ist nicht der erste Film, in dem Du Schrift als Element einbindest. Wie kam es zu der Entwicklung, Bild und Schrift zusammenzubringen?
Das schließt an die vorhergehende Frage an. In den frühen Super-8-Experimenten hab ich versucht meine Malereien mit Zwischentexten oder ins Bild gemalten Texten zu strukturieren, ähnlich dem Zwischentitel im Stummfilm. Eine Tonspur hatte man ja meist nicht zur Verfügung und, wenn doch, war die Tonqualität meistens unbefriedigend und hätte konzeptionell bestenfalls als ›Geräusch‹ eine Rolle gespielt. Wir reden von der Vor-Computer-Zeit. Und wie gesagt: Schrift ist auch Bild und hat noch dazu eine narrative wie sprach-künstlerische Seite. Wenn man von künstlich gemachten Bildern, Animationen ausgeht, fehlt der Ton erstmal per se.
Du hast die Worte in Linoldruck hergestellt. Kannst Du etwas zum Druckverfahren sagen? Warum hast Du Dich für die Form der Reproduktion entschieden und nicht einfach für Hand-Geschriebenes?
Das Hand-Geschriebene stand am Anfang meiner Experimente. Mit dem Linoldruck hab ich eine kompakte, ästhetisch wiedererkennbare und gleichzeitig individuelle, handgemachte Form der ›Textverarbeitung‹ für mich entdeckt und weiterentwickelt, die im Film sehr deutlich wirkt.
An welchen Filmen hast Du davor oder parallel dazu gearbeitet?
Außer den gerade erwähnten Super-8-Experimenten war der ›Linolfilm‹, später mit dem 35mm-Remake Zurückbleiben – ein Linolfilm, der erste Film mit dem ich in die Welt der Festivals (No-Budget Festival Hamburg 1988, Berlinale 1989) und des ambitionierten Filmemachens vorgedrungen bin. Das löste eine intensive Arbeit mit dem neu erfundenen Genre (oder der Form) Linolfilm aus. Es folgten die Filme Alfabet, dann Linolbüro (Oberhausen 1991) und Kipp-Krise (EMA, Osnabrück 1991), die mehr oder weniger parallel entstanden waren, ohne im ›Drehbuch‹ strikt voneinander abgegrenzt zu sein. Die technischen und finanziellen Möglichkeiten waren damals sehr begrenzt. Für die Filmkopien, ohne die man das fragile Zelluloid kaum an ein Festival schicken konnte, hab ich im Sommer 1990 Regale in einem Supermarkt eingeräumt.
Es gibt weitere Filme von Dir, die sich auf Gedichte beziehen oder die Worte, Schrift und Schriftbild mit einbeziehen. Was fasziniert Dich an der Relation von Gedicht, Wort-Film und Bild?
Die meisten meiner Filme arbeiten auf die ein oder andere Art mit Schrift. Da trifft sich die Faszination für das Schrift-Bild mit den narrativen Möglichkeiten, die man nicht einfach durch z. B. gesprochene Kommentare ersetzen kann. Im Lauf der Jahre habe ich ziemlich viele Möglichkeiten ausprobiert. Gerade Geld oder Leben ist ein Beispiel dafür, wie Wort auf Wort folgt und dadurch eine Spannung zum folgenden Bild und Wort aufbaut.
Im Poetryfilm Im Schnee (2006) bauen sich kurze Sätze sukzessiv auf. Das erinnert eher an das Schreiben mit einer Schreibmaschine oder Tastatur. Den Text hab ich nichtsdestotrotz in Linoleum geschnitten, um diese individuelle und deutliche Typografie zu erreichen. Im ›Landkarten-Linolfilm‹ Länder (1997) tauchen lediglich Namen afrikanischer Flüsse auf, da entsteht neben der Bildkomposition eine Spannung über das bekannt oder unbekannt sein der Namen innerhalb der kartographischen Animation konkreter afrikanischer Staaten.
In den Poetryfilmen Rutas simultáneas (2010) und Terrorsounds (2010), beide mit Gedichten von Teresa Delgado, hab ich 3D-Animationen eingesetzt. Im ersten Fall handelt es sich um einen Animationsfilm, der vollkommen ohne Kamera mit gescannten Linoldrucken hergestellt wurde. In diesem Film, der eine Busfahrt von Madrid nach Valencia behandelt, spricht Teresa Delgado das Gedicht, bewegte Schrift taucht unabhängig vom Gedicht auf. In Terrorsounds übernimmt wieder die Schrift das erzählerische Moment, diesmal in einer sehr bewegten Form.
In dem geförderten Film Die Prinzessin der zweiten Hand (1992) haben Teresa Delgado und ich im Ton eine Art Hörspiel mit mehreren Stimmen inszeniert. Da kommt man in ein anderes Gebiet, das sehr viel mit akustischem Schauspiel, Hörspiel zu tun hat und fast schon eine Konkurrenz zu den Bildern aufbaut. Natürlich sind in der Mischung dieser unterschiedlichen Ansätze sehr spannende Dinge möglich, aber man ist auf kompetente Kooperationspartner angewiesen. In der Praxis müssen die Kollegen auch die künstlerische Ausrichtung teilen. Da fächern sich die Vorstellungen zwischen den talentierten Mitarbeitern gemäß den konkreten Umständen auf. Diese Erfahrung hat mich als Bildenden Künstler und Filmemacher eher darin bestärkt, wieder mit Schrift als genuinem Bildelement zu arbeiten.
An welchen Projekten arbeitest Du momentan?
An der Aufarbeitung meiner Filme in Buchform, an mehreren Büchern und an sehr viel Material, das auf Reisen u. a. nach Mexiko und in meinem Atelier entstanden ist und entsteht.
Wird es weitere Poetryfilme von Dir geben?
Davon gehe ich aus, kann aber noch nichts Konkretes dazu sagen.
Über den Künstler |
Jakob Kirchheim, geb. 1962 in München, studierte freie Malerei an der HdK Berlin. Seit 1987 realisierte er diverse animierte Kurzfilme, meist auf Basis von Linoldrucken, spätere auch längere essayistische Dokumentationen und Poetryfilme. Er lebt als Bildender Künstler, Filmemacher, Autor und (Selbst-)Verleger in Berlin. |