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Zwischen Präsenz- und Medieneffekt

Die Körnigkeit der Stimme im Poetryfilm

Spätestens mit dem In-Erscheinung-Treten von Lyrik in audiovisuellen Kontexten wird eines deutlich: Die Vernachlässigung der akustischen Dimension im Film und anderen audiovisuellen Medien ist obsolet. Doch noch immer wird zuallererst, auch im Diskurs über Poetryfilme, schnell über die Bezüge zwischen Text und Bild, über inhaltliche Redundanz oder Mehrwert gesprochen und der Film vor allem als visuelles Medium wahrgenommen.

Zu diesem Gebiet gibt es so Vieles anzumerken, angefangen von sprechkünstlerischen Aspekten beim Gedichtvortrag über die Beschaffenheit der audiovisuellen Kopplung von Ton und Bild bis hin zum speziellen Status des Voice-overs im Film, dass ich an dieser Stelle nur einen einzelnen Aspekt herausgreifen kann, der mir aber für die Wirkung von Poetryfilmen besonders wichtig zu sein scheint: nämlich die Erscheinungsweise der Stimme selbst.

Viele Poetryfilme integrieren Gedichte als gesprochenen Text mithilfe einer stimmlichen Performance, nicht selten in Form eines Voice-overs. Ohne eine statistische Erhebung zur Hand zu haben, scheint mir dies sogar die häufigste Erscheinungsform zu sein. Sie erinnert an das Musikvideo, an dokumentarische oder experimentelle Formen und ist in der Trennung von Ton und Bild relativ untypisch für den narrativen Spielfilm, ja sie war lange Zeit sogar als unfilmisch verpönt. ‹1› Umgekehrt werden Filme, die dieses Verdikt missachten, wie etwa Letztes Jahr in Marienbad, India Song oder Der Himmel über Berlin, nicht selten als besonders ›poetisch‹ beschrieben.

Doch das Voice-over besteht im Poetryfilm gleichzeitig in einer sprechkünstlerischen Darbietung eines lyrischen Textes, die mithilfe vielfältiger Parameter wie rhythmischer Durcharbeitung, Tempo, Tonhöhenverläufen, Vielstimmigkeit, Akzentsetzungen, Klangsymbolik beschrieben werden kann. ‹2› Sie stehen für ein ganzes Arsenal nicht-sprachlicher Ausdrucksmittel, die zwar klanglich und non-verbal sind, aber ganz im Sinne ihrer expressiven, bedeutungsvermittelnden, kommunikativen Funktion interpretierbar sind. Doch spricht uns nicht in jeder stimmlichen Äußerung etwas an, was sich nicht auf diese Zeichenfunktion reduzieren lässt, etwas, das über den vermittelten Sinn hinausgeht, und das selbst noch zur emotionalen Botschaft des Gesagten einen Überschuss bildet?

Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang in einem vielzitierten Aufsatz vom ›grain de la voix‹, wörtlich übersetzt also dem Korn der Stimme, in der deutschen Übertragung als »Rauheit der Stimme« bezeichnet. ‹3› Es geht ihm dabei aber nicht um sprechwissenschaftliche Begriffe wie Heiserkeit oder Behauchtheit, sondern um etwas anderes, das Barthes als Zusammentreffen von Körper und Stimme im Moment der Signifikanz ‹4› umschreibt. Darin dem Filmkorn ähnlich, das im Moment der Abbildung gleichzeitig die Materialität der Abbildung preisgibt, ist die Körnigkeit der Stimme für Barthes eine Spur des Körpers in der singenden Stimme. ‹5›

Damit ist Stimme also nicht nur Mittel sprechkünstlerischer Durcharbeitung, Vehikel sprachlichen Sinns oder literarischer Symbolik, sondern immer auch Phänomen, das affektive Wirkungen auslöst, die über sprachliche Kommunikation hinausgehen. Dieser emphatischen Aufwertung der Stimme, wie sie früh auch vom Mediävisten Paul Zumthor vollzogen wird, schließen sich um die Jahrtausendwende immer mehr kultur-, theater- und literaturwissenschaftliche sowie medienphilosophische Texte an. Es kommt zu einer wahrhaften Renaissance der Stimme in der Theorie. ‹6› Stimme wird dabei zum Angelpunkt einer Ästhetik des Performativen, die sich dem Ereignischarakter ästhetischer Phänomene zuwendet. Dabei werden Charakteristika wie Flüchtigkeit, Prozesshaftigkeit und Präsenz in den Vordergrund gerückt. Semiotische oder hermeneutische Herangehensweisen an stimmliche Praxis werden entsprechend kritisiert, weil die Stimme anders als die Rede »sich ihrer bruchlosen, semiotischen, medialen oder instrumentellen Dienstbarkeit [entzieht], und dies gerade in jenen Zusammenhängen, in denen die Stimme professionell als Instrument ausgebildet und genutzt wird, wie bei Rednern, Schauspielern oder Sängern!« ‹7›

Die Performativität der Stimme steht also nicht nur im Gegensatz zur kommunikativen Funktion, sondern auch zu ihrer medialen Einbindung. Dieser Widerspruch ist für den Poetryfilm besonders wichtig, denn einerseits erfährt hier oft die Stimme eine Aufwertung gegenüber der Schrift und die materielle, performative, körperliche Dimension von Dichtung tritt in Erscheinung. Andererseits unterliegt die Performance im Poetryfilm unausweichlich auch einer Formierung und Strukturierung durch das audiovisuelle Medium, das die Ko-Präsenz mit den Akteurinnen und Akteuren suspendiert und seine eigene Medialität ins Spiel bringt: Am Gegenstand des Poetryfilms konvergieren also zwei Forschungsrichtungen, die sich aus der Hinwendung zu den Materialitäten der Kommunikation ergeben: media history zum einen und body culture zum anderen. ‹8›

Experimentelle Lyrik und Literatur, aber auch Experimentalfilm sowie Spoken-Word-Bewegung sind wichtige Traditionslinien des Poetryfilms. Sie alle haben auf ihre Weise das Verhältnis zur Stimme, Performance und zur Materialität der Sprache erkundet. Wie stellt sich das heute im Poetryfilm dar?

In Charles Badenhorsts Animationsfilm What abou’ de lô (What about the law), der in diesem Jahr mit dem ersten Weimarer Poetryfilmpreis ausgezeichnet wurde, lässt sich die Körnigkeit der Stimme und ihr Verhältnis zum Medialen auf besondere Weise erleben.

Auf der Tonebene ist das vom Dichter Adam Small selbst eingesprochene Gedicht auf Afrikaans zu hören, während im Bild die englische Übersetzung zu lesen ist. Dabei wird nicht lediglich auf Untertitel zurückgegriffen, sondern mit rhythmisch platzierten Einblendungen der Verse gearbeitet, die stellenweise in den Bildraum hineinragen. Auf der Bildebene des Films wird zu Beginn ein Radio angeschaltet, aus dem das Gedicht erklingt, sodass wir es streng genommen nicht mit einem Voice-over, sondern einer intradiegetischen Klangquelle und somit einer ›akusmatischen Stimme‹ aus dem diegetischen Off zu tun haben. Die Animation zeigt alltägliche Handgriffe in einer einfachen Küche, ohne je das Gesicht der handelnden Figur abzubilden.

In knappen Worten erzählt das Gedicht, wie das Apartheidsregime und die Mutlosigkeit der Angehörigen eine Liebesbeziehung und schließlich auch die Liebenden selbst zerbricht. Die Wiederholung der Formel »what about the law« und der Fragen »what law / god’s law / men’s law / devil’s law«, um die das Gedicht in Beschwörung, Auflehnung und Resignation kreist, erzeugt eine rhythmische Struktur, die im musikalischen und rhythmischen Vortrag des Dichters auf eindrucksvolle Weise ihre Verkörperung findet. Nur an ausgewählten Stellen werden Akzentsetzung und Stimmführung als emotionale Ausdrucksmittel eingesetzt. Ein Oszillieren zwischen Tonhöhen, ein Zittern, ja sogar ein leichtes Brechen der Stimme ergreifen uns und führen Aspekte der Stimme vor, die nicht in Kommunikation oder Ausdruck auflösbar sind.

Die Körnigkeit der Stimme wird in diesen Momenten des Brechens und Schwankens sehr deutlich spürbar. Eine weitere klangliche Besonderheit entsteht durch die Qualität der Aufzeichnung, durch die die sprechende Stimme leicht verzerrt, wie durch ein Telefon oder ein Radiogerät zu hören ist. Ob dies tatsächlich an der Beschaffenheit der verwendeten Tonaufzeichnung liegt oder ob der Effekt durch eine nachträgliche Bearbeitung für den Film entstanden ist, lässt sich beim bloßen Hören nicht entscheiden. Gleichzeitig ist die Stimme nicht eindeutig auf ein Geschlecht oder Alter festzulegen. Die Illusion von Nähe bei gleichzeitiger Körperlosigkeit, die uns so oft im ›raunenden Beschwören‹ des filmischen Voice-over-Erzählers vermittelt wird, wird durch diese Markierung des Medialen jedenfalls gestört. Nicht nur die Spur des Körpers, auch die Spuren des Medialen werden in der Aufnahme also sehr deutlich wahrnehmbar.

Als stimmlich verkörperte Dichtung ist der Poetryfilm von der Körnigkeit der Stimme direkt betroffen, und zwar nicht nur als performance-orientierter Poetryclip, der in der Tradition der Spokenword-Bewegung steht, sondern auch in ganz anderen Zusammenhängen, auch dort, wo es mit der Trennung von Ton und Bildebene scheinbar zu einer Entkörperung der Stimme kommt. Die Stimme wird im Poesiefilm jedoch gleichzeitig materiell reproduziert und medial formiert. Einerseits ermöglicht die akustische Aufzeichnung, wie Friedrich Kittler es nennt, das unvorstellbare Reale auf dem Grund von Sprache und Musik zu reproduzieren ‹9›, also die Stimme als Geräusch und somit auch die Spur des Körperlichen in der Stimme hörbar zu machen. Andererseits ist die Stimme immer schon geformt und beeinflusst durch ihre technische Aufzeichnung und kulturelle Praktiken. Diese Formierung wirkt auf die Sprechkünste und auf den Einsatz der Stimme selbst zurück. So ist etwa die Nähe der Stimme, welche es erlaubt, noch die kleinsten Nebengeräusche des Sprechens hörbar zu machen, selbst eine Leistung des Mikrophons und damit ein Medieneffekt.

Poetryfilme wie What about the law bringen diese Gleichzeitigkeit von Präsenz- und Medieneffekten zu Bewusstsein und machen, mit den Worten Roland Barthes’, die »Körnigkeit der Stimme« erfahrbar.


Anmerkungen:
‹1› Heiser, Christina: Erzählstimmen im aktuellen Film. Strukturen, Traditionen und Wirkungen der Voice-Over-Narration. Schüren 2013, S. 15f. (zur Nouvelle Vague siehe S. 110–117).
‹2› Einen guten Einstieg gibt Reinhart Meyer-Kalkus: Koordinaten literarischer Vortragskunst. Goethe-Rezitationen im 20. Jahrhundert. In: Gabriele Leupold u. Katharina Raabe (Hg.): In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst. Göttingen 2008, S. 150–198, hier S. 182f.
‹3› »[D]ie Rauheit der Stimme, wenn sie auf zweierlei ausgerichtet ist, zweierlei hervorbringt: Sprache und Musik.« Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme. In: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a. M. 1990, S. 269–278, hier S. 271.
‹4› Vgl. ebd., S. 270f.
‹5› Beim Filmkorn sind die zufällig verteilten Körner in der analogen Filmemulsion für das Korn verantwortlich, dadurch entstehen leichte Unterschiede zwischen den Einzelbildern, das Bild erhält eine gewisse Griffigkeit und Lebendigkeit. Die Körnigkeit ist ein Effekt der Materialität des Mediums, kann aber auch zum Zeichen erhoben werden.
‹6› Ausführliche Literaturhinweise geben Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme, Performanz und Sprechkunst. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Stuttgart 2007, Bd. 1, S. 213–223, hier S. 222f.; und Doris Kolesch u. Sybille Krämer: Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band. In: Dies. (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a. M. 2006, S. 7–15, hier S. 8.
‹7› Ebd., S. 11.
‹8› Siehe Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Stanford (Calif.) 2007, S. 11.
‹9› Vgl. Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 38.

Der leicht überarbeitete Vortrag wurde am 21. Mai 2016 in Weimar auf dem Colloquium ›Ton und Voice-over im Poetryfilm‹ gehalten, das im Rahmenprogramm zum 1. Weimarer Poetryfilmpreis stattfand.

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