Film des Monats August 2015 •
Eines der umfangreichsten Poesiefilm-Projekte unserer Tage, das New Yorker ›The Sonnet Project‹, bringt Shakespeare auf das Smartphone. Nach dem Prinzip ›154 Gedichte – 154 Orte – 154 Schauspieler‹ werden seit 2013 alle Sonette des Klassikers auf der Bühne des New Yorker Alltags szenisch neu interpretiert. Hier ein Beispiel.
Shakespeare auf dem Smartphone – das gibt es schon in verschiedenen Varianten. Was die New Yorker Theatergesellschaft NY Shakespeare Exchange (NYSX) jedoch seit zwei Jahren unternimmt, geht weit darüber hinaus: Die gesamten 154 Shakespeare-Sonette werden an ebenso vielen Orten im Zentrum New Yorks von ebenso vielen Schauspielern gelesen und szenisch dargestellt. Jeder Clip von anderthalb bis drei Minuten Länge soll ein weltweites Publikum dazu einladen, die klassischen Texte neu wahrzunehmen.
Es gehört zum Programm der NYSX, Shakespeare auf verschiedenste Weise in die Gegenwart zu holen und radikal zeitgenössische Anknüpfungspunkte für das Verständnis seiner Literatur anzubieten. Ross Williams, der künstlerische Leiter des Projekts, meint: »We’re always looking for new ways to reach audiences that go beyond the restrictions of a live performance in a small theater.« Billy Magnussen, einer der beteiligten Regisseure, fügt gegenüber der New York Times hinzu: »It brings Shakespeare to people who might not be in touch with it, and we can use social media like Twitter and Instagram to spread the word.« In der Tat wurde auf die Einbettung des Projekts in das Umfeld der sozialen Medien ein besonderes Augenmerk gelegt. Ein Großteil der über Crowdfunding und Spenden eingeworbenen Projektmittel diente zur Ausarbeitung von Website und App. Zu Beginn standen annähernd 30.000 $ zur Verfügung. Schauspielergagen werden hingegen nicht gezahlt. Auch die Regisseure arbeiten auf eigene Kosten.
Bevor die Zuschauer auf der Website oder der Smartphone-App die Filme sehen können, sind sie zunächst dazu angehalten, die Shakespeareschen Texte zu lesen und sich genauer zu informieren. Neben Textwiedergabe und Informationen zum Filmteam erhalten sie kurze ›Textanalysen‹ und Hintergrundinformationen zu den Drehorten und Schauspielern. Mit der App kann man darüber hinaus literarische Exkursionen durch New York unternehmen.
Interessierte Filmemacher bewarben sich über ein Formular, in welchem sie neben einem Exposé ihre technischen Voraussetzungen darlegten. Ihnen wurden Schauspieler und Textcoaches zur Seite gestellt, die vor allem bei der Rezitation behilflich waren und dafür sorgten, dass die Shakespeare-Intonation nicht verloren ging. Der professionelle Umgang mit dem Text ist den Produzenten wichtig, da das Projekt dazu gedacht ist, Schüler und Studenten bei der genauen Lektüre und zum eigenen Filmemachen anzuleiten.
Dass die NYSX Gedichte gewählt hat, anstatt kleinere Szenen aus Shakespeares Dramenwerk zu verfilmen, liegt an der Affinität von Gedicht und Kurzfilm. Das Sonett eignet sich durch seine gedrängte Form besonders für das Clip-Format. Eigentlich sollten diese Clips zu Shakespeares 450. Geburtstag am 23. April 2014 bereits vorliegen. Die Beiträge wandelten sich jedoch im Laufe der Zeit von einfachen Rezitationsdarbietungen zu anspruchsvolleren Poesiefilmen. Das Filmemachen wird also noch eine Weile andauern.
An dieser Stelle können wir nur ein Beispiel präsentieren. Es sei gleich hinzugefügt, dass nicht jeder der Filme visuell zu überzeugen vermag. Von der komödiantischen Variante bis zum nächtlichen Drama, von der Handkamera bis zur Digitalbearbeitung kann man allerdings eine große Bandbreite von visuellen Adaptionen finden. Die musikalische Untermalung vereint Stilrichtungen von Klassik bis Hip-Hop. Einige Filme sind wie für ein Kinopublikum gestaltet, andere haben eher den literarisch Interessierten im Blick. Keiner der Filme neigt dazu, die Texte zu illustrieren, sondern jeder versucht einen zentralen Bedeutungsaspekt in die Gegenwart zu holen. Topographisch führt uns The Sonnet Project zum 9/11-Monument oder dem Gebäude der Vereinten Nationen, in die Parks, über die Brücke bis in die Bibliotheken und die Bars. Die Anknüpfungspunkte dafür liegen teils mehr auf der inhaltlichen Ebene, teils sind es sprachliche Besonderheiten des Textes, die dann zur Auswahl eines bestimmten Ortes oder der Rollenwahl des Schauspieler-Rezitators geführt haben. So entsteht ein dem Poesiefilm eigenes ästhetisches Spiel: Der Betrachter ist aufgefordert, die intermedialen Resonanzen zwischen lyrischem Text und Film aufzufinden.
In unserem stillen und knappen Beispiel zum Sonett Nr. 50 hat Regisseur Nicholas Biagetti vor allem die Stimmung des Gedichts zu treffen versucht und mit der Inszenierung einer jungen schwangeren Frau, die am Ende des Films in Tränen ausbricht, ein Skript aufgerufen, das in wenigen Einstellungen und unter Zuhilfenahme des Shakespearschen Textes eine eigene Geschichte erzählt. Shakespeares Ritt auf dem Pferd wird zur ungewissen Einfahrt in den John F. Kennedy Airport umgedeutet. Vor allem der sentenzenartige Schlussvers »My grief lies onward, and my joy behind« funktioniert dabei als tragende Pointe, die Film und Text verbindet.
The Sonnet Project lässt aufmerken. In diesem modellhaften Experiment nutzt eine Theatergruppe den Poesiefilm, um das Theater zu den Menschen zu bringen, statt im Bühnenraum auf sie zu warten. Doch bietet das Medium nicht nur die Chance zu einer theatralischen Intervention in den öffentlichen Handlungsraum, sondern ebenso zu einer interaktiven und multimedialen Kooperation mit dem Publikum. Es ist erstaunlich, in welcher Größenordnung derartige Projekte bereits realisiert werden können, wenn die nötige Crowdfunding-Kompetenz vorhanden ist. Das Modell wartet auch bei uns nur auf die richtige Produktions- und Förderkonstellation. Technisch ist längst alles möglich.
William Shakespeare Sonnet 50 How heavy do I journey on the way,
Sonett 50 Wie mühsam schlepp’ ich mich von Ort zu Ort, |
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