Film des Monats November 2015 •
Abstrakte Farben und Formen gehörten schon früh zum experimentellen Repertoire des Poesiefilms. In »The Pipes/Pipene« (2014) verbindet der norwegische Künstler Kristian Pedersen die Bildsprache der Filmavantgarde mit Orgelklängen und spielt so zum Gedicht von Øyvind Rimbereid sein eigenes Requiem auf die Stavanger Fischfabriken.
Vielleicht erinnert sich mancher Leser noch an den Auftritt des norwegischen Dichters Øyvind Rimbereid auf dem letzten ZEBRA-Festival 2014 in Berlin. Im Rahmen des Länderschwerpunkts Norwegen las er seine Texte von einer Stummfilmorgel begleitet. In Norwegen, dies konnte das ZEBRA-Programm eindrücklich vor Augen führen, hat sich seit einiger Zeit eine lebendige Poesie- und Poesiefilmszene etabliert, die sich regelmäßig auf dem Osloer Poesiefestival präsentiert.
Unter den Filmemachern des Landes sticht Kristian Pedersen hervor. Seit 2007 hat er bereits zahlreiche Animationen zu Gedichten skandinavischer Autoren geschaffen. Sie wurden von Gasspedal Animert produziert. In Pedersens Filmen reagieren oft grafische Formen auf die Rhythmen von Soundscape und Voice-over. Dies gilt auch für den Film The Pipes/Pipene aus dem Jahr 2014, den Nils Henrik Asheim mit Harmoniumklängen vertont hat.
Die Wahl der Orgel gehört zum Thema. Das im Film vom Autor selbst vorgetragene Gedicht wurde ursprünglich für die Eröffnung der Stavanger Konzerthalle und ihrer neuen Orgel im September 2012 geschrieben. Erschienen ist es dann 2013 in Øyvind Rimbereids von der Kritik vielgelobtem Gedichtband Orgelsjoen (wörtl. Orgelsee). Rimbereid zählt zu den wichtigsten Stimmen der norwegischen Gegenwartslyrik. In den Texten dieses Bandes hat der in Stavanger geborene Schriftsteller Sinnlichkeit, Technik und Geschichte eng miteinander verbunden. Orgelklänge rufen in der Regel große, religiöse Emotionen hervor. Nicht so in diesem Fall. Gedicht und Film beschwören in ihrem titelgebenden Wortspiel – das sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt: »Pipene« bedeutet auf Norwegisch Orgelpfeifen, aber auch Schornsteine, Schlote – die Klänge der industriellen Massenfertigung.
Dieser Bezug begründet auch Pedersens Wahl der Bildsprache, die ihren ganz eigenen Weg geht. Die computergenerierten Formen erinnern stark an die Ästhetik der Filmavantgarde der 1920er und 1930er Jahre: Man denke an Hans Richters Rhythmus 21 (1921) oder Oskar Fischingers ›absolute Filme‹. Zugleich evozieren die Texturen und Farben in The Pipes/Pipene starke analoge, ja fast haptische Qualitäten. Durch dieses abstrakte Spiel zwischen Tonspur und Bild behandelt der Film also das Verhältnis von Industrialisierung und Kunst auf eine vom Gedicht unabhängige Weise und lässt der Wortsprache dadurch Raum.
Zu Beginn sind zunächst einmal nur die Geräusche der Orgeltasten zu hören. Vom unteren Bildrand hüpfen transparent wirkende quadratische Formen in die Höhe. Sobald ein Ton erklingt, füllt sich das erste Quadrat mit Farben. Mit dem Einsetzen der Stimme ändert sich der Hintergrund. Im Verlauf bewegen sich die abstrakten Formen weiterhin sowohl zum Rhythmus und den Impulsen der Orgelklänge als auch zu den Lauten der Stimme. Farbe und Formen orientieren sich oftmals an den Zäsuren, die das Voice-over vorgibt. Eine zusätzliche Dynamisierung des Bildraums wird durch die suggerierten Kamerabewegungen erzeugt, die den Formen folgen. Die Rechttecke vervielfältigen sich und werden zu Kuben.
Im zweiten Teil des Films nehmen eher Streifen, mehr Reflektionen als Körper/Objekte, die Tiefe des Raumes ein. Musikalisch dominieren jetzt lang gespielte Akkorde. Es entsteht eine subtile Mehrfarbigkeit teils auseinander driftender, teils sich überlagernder Formen. Die vertikale Bewegung wird von einer horizontalen ergänzt. Die abschließende Formation mutet wie Schrift an. Sie löst sich mit dem letzten Akkord auf.
Gegenüber diesen abstrakten, audiovisuellen Synästhesien lassen die Assoziationen des Gedichts konkrete, dinghafte Bilder hervortreten. Zwischen Abstraktion und Konkretheit stiftet die Orgel ein wichtiges verbindendes Element, das sowohl als Tonspur wie auch als Metapher Bild und Text miteinander kommunzieren lässt. Jeder der drei Bereiche behält dabei seine Eigenständigkeit.
Schon die Doppeldeutigkeit des Titels überblendet Orchestermusik und industrielle Stadtlandschaft. Die Fabrik wird selbst zum Orchester. Stavanger kennen wir heute als eine der Ölmetropolen Europas. Die im Untertitel genannten Jahreszahlen gelten jedoch einem älteren Industriezweig. 1873 wurde mit der Stavanger Preserving Company die erste Konservierungsfabrik für Sardinenbüchsen am Ort eröffnet, 1983 die letzte geschlossen. Die Falzmaschine für die Dosen, die Kisten, das Salz, die Makrelenschwärme – alles erinnert in diesem Gedicht an das geschäftige Treiben, das die weißen Häusern am Stavanger Hafen über mehr als ein Jahrhundert erfüllte und dessen Atmosphäre im Gedicht wie ein Märchen aus alter Zeit über der Stadt schwebt. Rimbereid, 1966 geboren, lernte die Welt dieser Fabriken noch in seiner Kindheit und Jugend kennen; heute lässt sie sich im Norwegischen Konservierungsmuseum bestaunen. Dieses befindet sich übrigens nur wenige Schritte vom Konzerthaus entfernt, zu dessen Orgeleinweihung das Gedicht geschrieben wurde. Hört man genau hin, so spielt diese Orgel also ein Requiem, ein Requiem zum Gedenken auf die alten Stavanger Fischfabriken, die einst mit ihren Schornsteinen die Hafensilhouette prägten.
Øyvind Rimbereid |
Die Pfeifen Da kam kein Klang Doch das Orchester war das bedeutendste seiner Art selbst als die Schläge oder die Kälte in die Akkorde kroch Finger laufen über Viertelkisten wie über Tasten ein leiser, aber gespannter Ton einer Fangschnur Doch aus den Orgelpfeifen kam kein Klang Verschleiernder Rauch, wo man ein Märchen erahnen sollte, Ein weiß gestrichenes Haus, Leitungswasser frisch wie der April Bis sich das Märchen im Westen auflöste und in Schwärme von Makrelenwolken Es war dies, das war die Kunst. Übers. G. Naschert |
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