Film des Monats

The Complete Works

Film des Monats Dezember 2015 •

Faszination wurde zur Obsession für den Titeldesigner Justin Stephenson: Knapp 15 Jahre lang arbeitete er an seinem animierten Dokumentarfilm »The Complete Works« über den kanadischen Dichter bpNichol. Konkrete Poesie trifft hierbei auf Titeldesign und zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich Poesie und Film ergänzen können.

Das Schreibmaschinengedicht The Complete Works des kanadischen Autors bpNichol (1944–1988) besteht lediglich aus den Buchstaben und Symbolen einer Schreibmaschinentastatur ergänzt um die Fußnote: »*any possible permutation of all listed elements.« Diese Umstellung und Vertauschung hat sich der Regisseur Justin Stephenson in seinem animierten Dokumentarfilm zunutze gemacht. Mit unterschiedlichen Animationsstilen und durch die subjektiven Erzählungen und Performances seiner Interviewpartner erstellt er – ganz im Sinne von bpNichols – nicht nur ein Korpus an Werken, sondern lässt diese tatsächlich neue Formen annehmen.

Justin Stephenson ist Titeldesigner. An seinem Debütfilm, von dem hier nur der Trailer gezeigt werden kann, arbeitete er 15 Jahre lang – und sicherlich ist es nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, er entwickelte geradezu eine Obsession für den Autor und sein Werk. Gelohnt hat sich seine intensive Recherche in bpNichols Erbe allemal. Die Vielfalt seiner Stile, die jedes seiner filmischen Kapitel ausmacht, gibt zu erkennen, wie Bild und Schrift, Film und Poesie sich gegenseitig in ihrer Ausdruckskraft bestärken können.

Für jedes der Werke von bpNichol findet Stephenson eine eigene Form, die vom Comicstrip, Western über Dokumentarfilm bis hin zu händisch bzw. computergenerierten Titeln und Bildern reicht.

Auch die Rahmenhandlung, die als eine Art Roadtrip dokumentarisches Material von Autofahrten zeigt und symbolisch die Strecken zwischen den Interviews mit Freunden und Dichterkollegen überbrückt, vereint mehrere Stile. Der Weg von einem Interpreten zum nächsten bebildert ein Segment des Gedichts aus dem ersten Teil von The Martyrology Book 5. Dazu werden Filmbilder und durchsichtige beschriftete Folien überblendet, die eine Hand in das Bild hineinhält. Über mehrere Folien verteilt befinden sich die Zeilen des Gedichts:

»metaphorically the page is a window

it’s not
i try writing on the glass &
the ink won’t hold
ideas
the mind won’t hold
writing in the dream &
this is a pen moving on paper
metaphorically this is a pen moving on paper«

Die Folien überlagern wiederum Bilder, die erneut abgefilmt werden und eine weitere Ebene erzeugen. Dieses Spiel mit der Materialität ist ein wesentliches Element von bpNichols Texten und wird daher vom Filmemacher aufgegriffen: Den roten Faden des Films bilden dabei die vielen Lektüren und Lesarten der Vortragenden, die Stephenson als Leser auftreten lässt und deren Rezitation er mit wilden Formen kommentiert. Auch diese Beteiligung ist essentiell für bpNichols Gedichte. Stephenson erklärt: »The thing that really drew me to his work was that he overtly invited the reader to participate in the meaning of the text. The act of reading, my reading, became a subject of the work. The text happened on the page in my hands.« Stephenson und seine Mitstreiter erwecken die Werke des 1988 verstorbenen bpNichol wieder zum Leben, indem sie einzelne Texte vortragen, vorlesen und durch dokumentarisches Bildmaterial und animierte Titel interpretieren.

Der Film The Complete Works spielt also mit den Möglichkeiten der Konkreten Poesie und Lautpoesie, geht aber auch über diese hinaus. Im Kapitel »Optical Sound« wird bpNichols Stimme in einem Sonagramm grafisch visualisiert, während er gleichzeitig in einer Aufzeichnung seines Gedichts song for saint ein zu hören ist. Das Gedicht umfasst unter anderem die zwei Zeilen »i am this noise / my voice says so«, die der Film um die weitere Zeile »I am this image« ergänzt und den Text damit für seine Zwecke fortschreibt.

Ein vergleichbares Verfahren kommt bei der Adaption von bpNichols Lautgedicht White Sound zur Anwendung: Die Überlagerungen von Stempelabdrücken wandelt der Film in überlagerte Tonspuren um und programmiert daraus mittels Software eine Videoperformance. Stephenson selbst bezeichnet dies als Remake des Originals. Vorgetragen wird White Sound von dem kanadischen Poeten Steven Ross Smith. Für Ross waren die Performances der Lautpoesiegruppe um bpNichol The (four) Horsemen die Initialzündung für seinen Werdegang als Lyriker.

Justin Stephenson schafft in seinem Poetryfilm vor allem dies: die Werke eines Poeten, dessen Leidenschaft die Auseinandersetzung mit der Beziehung von Form und Inhalt ist, mit eben derselben Leidenschaft darzustellen – aber auf eigene Weise. Der Regisseur Atom Egoyan hat es folgendermaßen ausgedrückt: Der Film The Complete Works sei »an exciting and immersive experience, and a fantastic introduction to the poet bpNichol’s work. There are several moments in the film where form and content are fused spectacularly and with stunning effect. Justin Stephenson has conceived an experience overflowing with wit, and beauty. More than a tribute, this film is a multi-layered evocation.«

Das Gedicht

thecompleteworks

Aus: bpNichol: The Complete Works. Toronto: GANGLIA, 1968.

Informationen zum Film

  • The Complete Works
  • Kanada 2015, 41 Min.
  • Regie u. Produktion: Justin Stephenson
  • Text: Barrie Phillip »bp« Nichol (1944–1988)
  • Preise: DOK Leipzig 2015, Next Masters Wettbewerb
Über die Autorin
KuesNach dem Bachelor-Abschluss in Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studierte sie den trinationalen Master European Film and Media Studies an der Bauhaus-Universität in Weimar, der Université Lyon 2 und der Universiteit Utrecht. Für artechock, Nisimazine und Cineuropa verfasste sie bereits mehrere Filmkritiken.

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