Film des Monats Juli 2016 •
Rasant und rätselhaft zugleich setzen die Brüder Chris und Nick Libbey ein Prosagedicht des US-amerikanischen Dichters John Ashbery in Szene. Ihr Film »Steel and Air« (2015) überzeugt ebenso durch den Rhythmus der Bildfolge wie durch seine intelligente Annäherung an den lyrischen Text. Beim 1. Weimarer Poetryfilm-Wettbewerb im Mai diesen Jahres erhielt der Film den Publikumspreis.
John Ashberys Gedichte suchen die Nähe zum Film. Immer wieder machen sie sich cineastische Themen und Techniken zu eigen. Deswegen sind sie aber keineswegs leichter in die Filmsprache zu übersetzen. Dem Poesiefilm Steel and Air der Brüder Chris und Nick Libbey aus Minnesota gelingt hier Erstaunliches. Er entwickelt eine der Lyrik angemessene Bildsprache und kommt gleichzeitig den Sehgewohnheiten des Kinopublikums entgegen.
Initiiert wurde der Film vom Poetryfilm-Projekt Motionpoems unter der Leitung des Autors und Filmemachers Tedd Boss. Motionpoems produzierte bereits an die achtzig Poetryfilme. Mit der Einladung erhalten die Regisseure eine Reihe von Gedichtempfehlungen, aus denen sie auswählen können. In diesem Fall entschieden sich die Brüder Libbey für ein Prosagedicht John Ashberys, das eng mit ihrer Heimat verbunden ist. Ashbery hatte es 1988 zum Bau der Irene Hixon Whitney Bridge in Minneapolis verfasst. Der Text ist in die Stahlträger der Brücke eingeschrieben. Man kann ihn im Vorbeigehen lesen. Das Moment der Bewegung und das Element der Zeit werden dadurch Teil des Gedichts. Im Film selbst sind sowohl die Brücke als auch der Text für einige Sekundenbruchteile im Bild zu sehen (2:44 Min). Sie ist also Drehort und Metapher zugleich.
Ashberys Gedicht kreist um zwei verschiedene Bewegungsdimensionen des Lebens: Das ständige Überqueren von Grenzen (Brücke) korrespondiert dem Auflaufen auf eine letzte Grenze (Strand). Durch beide Bewegungen definiert sich der Ort des Menschen in der Zeit. Diese Unterscheidung aufgreifend antwortet der Film auf das Gedicht mit einer ausgeklügelten narrativen Struktur. Die Rahmenhandlung bilden zwei einfache, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Geschichten: Auf der ›Realebene‹ schmiert sich ein Mann im Greisenalter zuhause ein Brot und geht zum Strand, um es dort zu essen. Auf dem Weg und mit Blick auf das Meer erinnert er sich an verschiedene Phasen seines Lebens. Auf einer weiteren Erzählebene wird das Geschehen gedeutet; man sieht den Mann auf einen Automaten zugehen, der ein zentrales Motiv des Filmes bildet und so eine Art ›Lebensautomat‹ darstellt. Diese zweite, reflexive Geschichte wird immer wieder in der Totalen gezeigt und durch Irrealität in Raum und Zeit unterschieden. Zunächst sehen wir den alten Mann in einiger Entfernung zum Automaten stehen. Am Ende des Films wird er ihn erreichen.
Durch die Filmeinstellung der Totalen (long shot) erhält der Film die Struktur von Anfang, Mitte und Ende und zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil, der Exposition, werden linear die vier männlichen Rollen und Lebensphasen eingeführt, an die sich der Alte erinnert: das Kind, der Liebhaber (gespielt von Regisseur Nick Libbey), der Familienvater, der einsame Pensionär. Nach Abschluss der Exposition wechselt der Film zur Rahmenhandlung. Der Alte erreicht den Strand: »It is so much like a beach after all, where you stand and think of going no further.« Im zweiten Teil von Steel and Air werden die verschiedenen Identitäten gemischt und durch die Schnitttechnik nichtlineare Korrespondenzen zwischen ihnen aufgebaut.
Der im Zentrum der Deutungsebene stehende Automat kann als Metapher für die Entscheidungen gesehen werden, die den Verlauf eines Lebens bestimmen. Am Anfang ist er mit verschiedensten Objekten gefüllt. Sie erinnern an Schokoladentafeln, verpackt in allen erdenklichen Farben; eine Repräsentation vielleicht für Personen, Situationen, Orte, die man liebt oder für Ziele, die man erreichen wollte. Mit der Zeit jedoch leert sich die Maschine. Der Automat symbolisiert gleichsam eine Ordnungsstruktur in der Bewegung des Lebens: »The place of movement and an order.« Jedes Alter steht vor dieser rätselhaften Maschine mit ihren käuflichen Versprechungen, in der sich Wahlfreiheit und Zufall mischen, bis nichts mehr zu kaufen übrigbleibt.
Zwei formale Techniken sind in Steel and Air besonders auffällig: Zum einen bedient sich der Film einer besonderen Schnitttechnik, wenn z. B. das Bewegungsmuster eines Protagonisten aufgenommen und von einem anderen weitergeführt wird. Derartige ›Match Cuts‹ stellen unerwartete Bezüge her, die scheinbare Zusammenhänge im Leben aufzeigen, die erst im Rückblick sichtbar werden. Darüber hinaus spielt der Film mit Wahrnehmungsschwellen der Betrachter. Neben längeren Episoden besteht die rasante Bildfolge, die an einen Bewusstseinsstrom denken lässt, aus zahlreichen Bildeinstellungen, die nur Sekundenbruchteile aufblitzen und zuweilen starke, symbolische Botschaften enthalten. Sie werden vom Betrachter jedoch nicht sofort erkannt und erzeugen ein unterschwelliges semantisches Rauschen, das auf die im Eingangsvers des Gedichts (»And now I cannot remember«…) angesprochenen Erinnerungsschwierigkeiten verweist. Durch Anhalten des Videos erkennt man z. B. eine Kirche, ein Auto im Schneesturm oder eine unruhig spiegelnde Wasseroberfläche. Mithilfe dieser Techniken versuchen Chris und Nick Libbey eine – dem Genre des Prosagedichts korrespondierende – Kombination einfacher narrativer Ordnungen (Stahl) mit einem rätselhaft-metaphorischen Bilderchaos (Luft) zu erzeugen: »Here it is. Steel and air, a mottled presence.«
In vielen Momenten ist es dem Betrachter also nicht möglich, schon während des ersten Sehens über die Bildbedeutungen nachzudenken. Und das ist von Vorteil: Seine Aufmerksamkeit bleibt so auf den Vortrag Ashberys gerichtet, der durch die musikalische Unterlegung sogar in die Nähe zum Musikvideo gerät. Durch die Musik und das Sounddesign von John Pickard erhält der Film eine positive und versöhnliche Gesamtaussage. Die Einsamkeit des Pensionärs, der sich wieder selbst die Wäsche waschen muss, der alleine Golf spielt und dem auf der Bank die Weinflasche davonrollt, ist nicht die letzte Einstellung gegenüber dem Leben. Der Greis am Strand bejaht das Auflaufen und die Betrachtung einer letzten Grenze: »And it is good when you get to no further.« Auf den Tod verweisend behauptet sich im Bild des Strandes etwas sehr Vitales.
Chris und Nick Libbey haben es so beschrieben: »The film, STEEL AND AIR, aims to capture and enhance Ashbery’s poem by chronicling a man’s journey through life and the wonderful, boring, and ultimately finite experiences that come with it. And then it got very cool.«
John Ashbury |
Und jetzt kann ich mich nicht erinnern, wie ich es gerne gehabt hätte. Es ist nicht eine Rohrleitung (Zusammenfluß?), sondern ein Ort. Der Ort der Bewegung und einer Ordnung. Der Ort der früheren Ordnung. Aber das Schwanzende der Bewegung ist neu. Bringt uns dazu zu sagen, was wir denken. Es ist schließlich so sehr wie ein Strand, wo man steht und beschließt, nicht weiter zu gehen. Und es ist gut, wenn man nicht weiter kommt. Es ist wie eine Einsicht, die einen aufhebt und dorthin plaziert, wo man immer schon sein wollte. Na gut. Es ist anständig, zu überqueren, überquert zu haben. Dann gibt es da also kein Versprechen im anderen. Da hast du. Stahl und Luft, eine gesprenkelte Gegenwart, ein kleines Allheilmittel und ein Glück für uns. Und dann wurde es sehr kühl. © 1995 Residenz Verlag GmbH, Salzburg – Wien |
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