Besonders beim Poesiefilm fließen Schrift und Bild ineinander. Zeichen und Buchstaben fliegen horizontal, vertikal oder auch diagonal durch das Filmbild. Sie sind dreidimensional animiert, bewegen sich im Sprach- oder Musikrhythmus.
In manchen Fällen werden sie auch als Zwischen-, Ober- oder Untertitel eingeblendet. Bei der Typographie gibt es ebenfalls keine Grenzen. Handschriftliche oder computeranimierte Buchstaben verstärken die Aussagen der Gedichte durch Form und Bewegung der Zeichen. Der Umbruch der Textzeilen in den Filmen kann sowohl das Enjambement der Gedichttexte aufnehmen als auch kontrastieren. Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie Schrift bzw. Verse in Filmen integriert werden können.
Kylie Hibbert
Die neuseeländische Designerin Kylie Hibbert verfilmte 2005 unter dem gemeinsamen Titel Belles Lettres die Gedichte I died for Beauty, but was scarce (1862) von Emily Dickinson (1830–1886) und Mirror (1961) von Sylvia Plath (1932–1963). Plaths Gedicht beginnt mit den Worten des Spiegels »Ich bin silbern und genau. Ich habe keine Vorurteile.« Der Spiegel – zentrales Motiv in ihrer Lyrik – »bündelt Probleme, die für ihr Schreiben insgesamt von großer Wichtigkeit waren: Fragen nach der Grenze zwischen Selbst und Welt, zwischen Wahrem und Falschem, ein Hang zur Selbstreflexion und das Interesse für Prozesse der Wahrnehmung.« ‹1›
Mirror greift den Narziss-Mythos auf, setzt sich mit der gesellschaftlichen Vorstellung von einer idealen Frau auseinander und erinnert Leserinnen und Leser an ihre eigene Vergänglichkeit. Neben »Pin-up-Girls werden weitere graphische Elemente gezeigt, die auf die strikte Geschlechter-Inszenierung in schriftlicher Form« ‹2› hinweisen. Hibbert beschreibt ihre beiden Filme folgendermaßen: »By transforming the written words of poetry into choreographed kinetic performance the project seeks to expand typographical conventions of traditional published poetry.« ‹3›
Antonio Poce
Der italienische Komponist, Kalligraf und Videokünstler Antonio Poce (*1950) schreibt ausgewählte Worte aus den von ihm verwendeten Gedichten in seiner eigens entwickelnden Kalligrafie nieder. In seinen Experimentalfilmen integriert er diese und unterlegt sie mit den Kompositionen von Valerio Murat (*1976). So entstand eine Reihe von Verfilmungen der Gedichte des italienischen Klangpoeten Giovanni Fontana (*1946) wie Nuvolari (I 2005), Coppi (I 2006) oder Pneumastolfo (I 2009).
In seinem Poesiefilm Nuvolari, der den legendären italienischen Rennfahrer Tazio Nuvolari (1892–1953) feiert, ergänzt Poce seine eigenen Videobilder um die historischen Szenen von Autorennen. Murat komponierte die Musik für Cello, Stimme und elektronische Klänge, inspiriert von zwei Haikus Giovanni Fontanas, der die Erfolge des Sportlers in euphorischen Worten feiert. »Three minutes made of images – music – voices one life of one universe fusing in a single, multiple memory of sighs, interferences, revelations and deep silences«, wie es Poce beschreibt. ‹4›
Kristian Pedersen
Der norwegische Animationsfilmemacher Kristian Pedersen arbeitet mit mehrdimensionalen Buchstaben, die als grafische Elemente die Texte verstärken. In seiner Animation Viva Zombatista. De døde står opp for å fortære de levende (N 2009) gleiten Worte durch den Raum oder werden etymologisch aufgelistet. In seinem Gedicht bemängelt Simen Hagerup den geringen Wortschatz und die schlechte Aussprache der Untoten, die ständig das Wort ›Gehirn‹ wiederholen.
In Bokstavene (N 2010) nach dem gleichnamigen Gedicht des norwegischen Autors Sigurd Tenningen werden die ausgeschnittenen Buchstaben dreidimensional aufgerichtet und erweitern die übliche Zweidimensionalität des Buches. Die wenigen Geräusche des Films, z. B. das Rattern des Mikrofiche-Lesegerätes oder das Blättern der Buchseiten, unterstreichen die Aussage des Gedichts, dass in Bibliotheken oftmals eine Grabesstille herrsche.
Kliniken (N 2011) basierend auf dem Gedicht gleichen Titels der schwedischen Autorin Annelie Axén lässt die Worte wiederum wie in Röntgen-Aufnahmen erscheinen oder sie einem Sehtests gleich von unscharf zu scharf wechseln.
Joanna Priestley
Die Animation Missed Aches (USA 2009) der US-Amerikanerin Joanna Priestley nach dem Gedicht The the Impotence of Proofreading des Slam Poeten Taylor Mali visualisiert zum einen Schreibfehler und zeigt zum anderen in Bildern, welche Worte eigentlich gemeint sind. »Sprachlich (Erzähler: Taylor Mali), schriftlich mit animierten Einblendungen und bildlich mit den Illustrationen der absurden computergestützten Korrekturmaßnahmen wird die Geschichte eines Schülers erzählt, der als Reaktion auf schlechte Zensuren aufgrund zahlreicher Rechtschreibfehler […] die Autokorrektur im Textverarbeitungsprogramm aktiviert […].« ‹5›
Alice Lyons / Orla Mc Hardy
Gemeinsam mit Orla Mc Hardy (*1976) animierte die Lyrikerin Alice Lyons (*1960) The Polish Language (IR 2009), in dem sie ihre Gedichtzeilen als Handschrift, als Aufdruck von Büchern, als Text in Büchern oder als Pop-ups aus farbigem Papier integriert. Im Film werden Auszüge aus Gedichten von Tadeusz Różewicz (1921–2014), Wisława Szymborska (1923–2012) und Zbigniew Herbert (1924–1998) zitiert. Ihr Film wurde u. a. als beste Animation beim Galway Film Fleadh 2009 ausgezeichnet.
Die Jury begründete dies wie folgt: »An animated film for lovers of words, pictures and poems. It pays homage to the revitalization of poetry in the Polish language in the 20th century. Using hand-drawn, stop-motion, time-lapse and computer techniques, the poem unfolds onscreen, with typography as a key visual element. Its visual style is loosely based on underground publications in Poland in the 1970s and 1980s, known as Bibuła. A chorus of voices sampling poems in Polish, woven together with original music by London-based sound designer Justin Spooner, combine to create a powerful score in a film of ›emotional depth and technical sophistication‹.« ‹6›
Vessela Dantcheva / Ebele Okoye
Anna Blume (BUL/D 2009) von Vessela Dantcheva (*1975) und Ebele Okoye (*1969) nach dem Gedicht An Anna Blume (1919) von Kurt Schwitters (1887–1948), der unter dem Kennwort MERZ ein dadaistisches ›Gesamtweltbild‹ entwickelte. Das Gedicht, das er 1920 als Werbung für seinen neuen Gedichtband an den Litfaßsäulen in Hannover verbreitete, stammt aus der künstlerischen und literarischen Bewegung des Dadaismus. Im Film verwandeln sich Schriftzeichen in Figuren, die den Körper von Anna Blume regelrecht aufreißen. Aus ihrem Körper kommen neue Buchstaben, die wiederum Worte bilden. Ganz zentral ist die Buchstabenfolge A-N-N-A, die in verschiedenen Formen auftaucht. »Anna Blume ist ein Stück visueller Poesie über die lustvolle Jagd einer Frau durch einen Mann. Die Geschichte nimmt einen surrealen Verlauf, bestimmt durch die Vorstellungen des Dichters. Wollust und das Bedürfnis nach vollständiger Vereinnahmung – versteckt im Gewand der Liebe – treiben die beiden Charaktere an einen Endpunkt, wo sich Liebe in einen einsamen und merkwürdigen Zustand verwandelt.« ‹7›
Peter von Matt schreibt über das Gedicht An Anna Blume: »Wie wenig es hier um Gewalt geht, die der Sprache angetan wird – der Vorwurf existiert –, kann man an den Zeichen der Weichheit, der Verflüssigung studieren, die den Schluß bestimmen. Was zunächst schmilzt, ist ein Wort, der Name Anna. Sichtbar, hörbar geschieht dies durch das Auflösen der festen Bezeichnung in die einzelnen Laute: ›a-n-n-a‹. Und dann heißt es tatsächlich: ›Dein Name tropft.‹ Jetzt erst entdeckt der Sprecher auch das Palindrom im Namen, eines der ältesten sprachmagischen Ereignisse seit der antiken Sator-Formel. Es gerät zum Zeichen der Verwandlung für beide, die Frau und den Mann. Beide werden weich und sanft wie dieses Wort. Das krasse Bild vom Rindertalg aber verhindert den drohenden Kitsch und krönt das Gedicht mit der kühnsten Liebesmetapher des 20. Jahrhunderts.« ‹8›
Asparuh Petrov
Mark & Verse ist ein bulgarisches Filmprojekt, das eine Brücke zwischen Poesie und Animation bauen soll. Sechs visuelle Interpretationen zeitgenössischer bulgarischer Gedichte wurden auf verschiedene Art und Weise umgesetzt. »Animation has no limits and it brings the power of visual symbols and metaphors in a similar way poetry does. Stories of doomed paper boats, intimate links to cinema genres, petty morning crimes, ice-cream hopes, urban moods and industrial revelations are interwoven in this visual poetry experience«, so die Produzentin Vessela Dantcheva. ‹9› A petty morning crime (BUL 2015) von Asparuh Petrov nach dem gleichnamigen Gedicht des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov ‹10› erzählt von einem »kleinem morgendlichen Verbrechen«, das sich rein zufällig beim Gang zur Außentoilette ereignet. Ein unachtsamer Moment und schon hat man ein Leben zerstört, wenn es auch nur das einer Schnecke ist. Beschämt versucht man die Spuren dieses Verbrechens schnell und unauffällig zu beseitigen. Petrov baut den Text äußerst geschickt in die schwarz-weiße Animation ein und vermeidet damit die lästigen Untertitel. Der Text wird Bestandteil der Stadtarchitektur und der Gegenstände, die von den Protagonisten benutzt werden.
In Milen Vitanovs Natural Novel in 8 chapters (BUL 2015) nach dem Gedicht gleichen Titels von Georgi Gospodinov befinden sich Schriftzeichen auf verschiedenen Gegenständen, wie Eiswaffeln, Kartons etc. Diese Gegenstände lösen sich jedoch mit der Zeit auf und allein die Zeichen bleiben zurück.
Ottar Ormstad / OTTARAS
Die Künstlergruppe OTTARAS – Alexander Vojjov, Ottar Ormstad, Taras Mashtalir – verfilmte mit Long Rong Song (N 2015) und Navn Nome Name (N 2015) die Lautgedichte des Norwegers Ormstad. In Long Rong Song, das auf seiner frühen konkreten Poesie und seinen Spracherforschungen basiert, liest Ormstad aus fünf Gedichten, die in einer von ihm entwickelten Kunstsprache geschrieben worden sind, zur pulsierenden Musik des russischen Komponisten Mashtalir.
Bei Navn Nome Name werden Namen als konkrete Poesie visualisiert, die zumeist stark mit dem Norwegischen verbunden sind und Naturphänomene beschreiben. Der Film basiert auf Ormstads telefonkatalogdiktet (2006) und beinhaltet nur Familiennamen, die vom Autor ausgesucht und angeordnet wurden. Als Vorlage diente das Osloer Telefonbuch, dessen ausgesuchte Namen auch die Basis für die visuelle Poesie bildeten. Einige Namen könnten mit der norwegischen Landschaft verbunden, andere wiederum wegen ihres Klangs ausgewählt worden sein. So verwandeln sich die norwegischen Namen in eine internationale Lautpoesie. Vojjov stellt mit den atmosphärischen Gebilden, die er aus Nummern, geometrischen Formen und abstrakten Oberflächen entworfen hat, eine Beziehung zwischen den Namen und der Sprache her.
Mooon (N 2015) konfrontiert den Zuschauer mit Buchstaben-Teppichen und dem gelben ›Y‹, mit dem sich Ormstad identifiziert. Basierend auf Live-Videoaufnahmen, die der Dichter 2014 auf seinen Reisen durch Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, Litauen und Deutschland mit einem Smartphone aufgenommen hat, ist der Film als eine dokumentarische Suche nach Wasser auf dem Mond zu verstehen.
Jörg Piringer
Der Wiener Medienkünstler Jörg Piringer arbeitet in den Lücken zwischen Sprachkunst, Musik, Performance und poetischer Software. In selbstverbesserung (A 2015) animiert er sowohl einzelne Buchstaben, die langsam von links nach rechts durch den Raum gleiten, als auch Worte, die teilweise das Gesprochene aufnehmen. Ein Soundteppich aus Konsonanten und Vokalen löst den Rhythmus aus Atemgeräuschen und ein tiefer Bass ab. Dazwischen immer wieder das elektronisch verfremdete Voice-over des Dichters. Im Zentrum steht das ›Ich‹, das sich verbessern will und muss.
Jörg Piringer meint zum heutigen Umgang mit den digitalen Schreibprogrammen: »jede autorin und jeder autor nutzt täglich digitale technologie, um texte zu verfassen, zu telefonieren, artikel zu lesen, emails zu versenden, veranstaltungen zu bewerben und für unzählige andere tätigkeiten. dennoch findet wenig reflexion über die auswirkungen dieser technologien auf das schreiben und leben derjenigen statt, die damit professionell arbeiten.« ‹11›
Eine interessante Aussage, die einen weiteren Umgang mit Poesie andeutet. Ähnlich wie Ottar Ormstad verlässt Piringer die ursprüngliche Form des bewegten Bildes und widmet sich der Performance sowie der interaktiven Präsentation seiner Gedichte. Mit diesen interaktiven Installationen wurde auch die Schrift Teil einer spielerischen Aufführung und dank der intelligenteren Technik zu einer sich verselbstständigen Spracheinheit, die neue Bedeutungen generiert. Wichtige Arbeiten zum interaktiven Schriftfilm hat die Ausstellung p0es1s ‹12› präsentiert und wurden von Künstlern wie David Link ‹13› oder Bill Seaman ‹14› produziert.
Anmerkungen:
‹1› Stephanie Orphal: Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium. Berlin 2014, S. 205.
‹2› Ebd., S. 208.
‹3› URL: https://vimeo.com/126030122 (abgerufen 6.6.2017).
‹4› Informationsblatt zum Film Nuvolari 2005.
‹5› Bernd Scheffer, Christine Stenzer, Peter Weibel u. Soenke Zehle (Hg.): Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung. Ostfildern 2014, S. 297.
‹6› Jury, Galway Film Fleadh 2009, award for Best Animation.
‹7› Robert Bosch Stiftung: Animationsfilm: Anna Blume. URL: http://filmfoerderpreis.bosch-stiftung.de/content/language1/html/8878.asp (abgerufen am 8.7.2017).
‹8› Peter von Matt: Zu Kurt Schwitters Gedicht An Anna Blume. Merzgedicht 1. Aus: Ders.: Wörterleuchten. München 2009. Zit. n. URL: http://www.planetlyrik.de/peter-von-matt-zu-kurt-schwitters-gedicht-anna-blume-merzgedicht-1/2016/05/ (abgerufen am 8.7.2017).
‹9› Vgl. Begleitmaterial zum Filmprojekt Mark & Verse.
‹10› Georgi Gospodinov, 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia, promovierte am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Künste und arbeitet seit 1993 für eine Literaturzeitung, ist Kolumnist der Tageszeitung Dnevnik und arbeitet am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Künste. URL: http://www.lyrikline.org/de/gedichte/lyubovniyat-zaek-4781#.WRiO0OuLRhE (abgerufen am 14.5.2017).
‹11› Jörg Piringer: Datenpoesie. URL: http://www.logbuch-suhrkamp.de/joerg-piringer/datenpoesie/ (abgerufen 10.5.2017).
‹12› p0es1s. Digitale Poesie ist eine Ausstellung des Haus für Poesie, vormals Literaturwerkstatt Berlin, in Kooperation mit der Stiftung Brückner-Kühner und mit Unterstützung der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin. Siehe URL: http://www.p0es1s.net/index.html (abgerufen 12.7.2017).
‹13› Siehe URL: http://www.alpha60.de/art/poetry_machine/ (abgerufen 12.7.2017).
‹14› Siehe URL: http://billseaman.com (abgerufen 12.7.2017).
Der leicht überarbeitete Vortrag wurde am 20. Mai 2017 in Weimar auf dem Colloquium »Typographie und Schrift im Poetryfilm« gehalten, das im Rahmenprogramm zum 2. Weimarer Poetryfilmpreis stattfand. |
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