Eine Rezension von Stefanie Orphals »Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium« (2014)
In der Geschichte der wissenschaftlichen Bearbeitung von Literatur-Film-Beziehungen hat die Gattung Lyrik bisher wenig Beachtung gefunden. Stefanie Orphal stellt sich mit ihrer Dissertation der Herausforderung, das Format Poesiefilm in seiner gesamten Bandbreite vorzustellen und dennoch definitorisch einzugrenzen. Unter dem Hyperonym »Poesiefilm« subsumiert Orphal in erster Linie Beispiele »eine[r] Kurzfilmgattung, die sich ausschließlich über die Bezugnahme auf eine literarische Gattung definiert: Sie integrieren oder adaptieren lyrische Gedichte«. ‹1› Dieser knappen Vorstellung des Untersuchungsgegenstandes muss selbstverständlich der Versuch einer Definition des Lyrischen an sich folgen.
Das technische Medium Film ist einem im Großen und Ganzen geläufig. Aber was genau beschreibt eigentlich das Adjektiv ›lyrisch‹? Oder heißt es ›poetisch‹? Gibt es da einen Unterschied? Und wenn ja – welchen? Dies zu definieren, ist ein Unterfangen, das quasi schon im Voraus zum Scheitern verurteilt ist, da innerhalb der deutschsprachigen Forschung – nach wie vor – keinerlei Einigkeit über eine Definition des Lyrikbegriffs besteht. Es ist erfrischend, dass Stefanie Orphal jener Problematik eingedenk an dieser Stelle nur etwa zehn Seiten an »lyriktheoretischen Vorüberlegungen« ‹2› anstellt, in denen sie auf die wichtigsten Debatten zum Thema verweist – von den antiken Dichtungssystematiken über Goethe/Hegel/Herder bis zu Jakobson und schließlich Rüdiger Zymners Ansatz, der Orphal als »lyrikologische Ausgangsbasis« ‹3› für ihre Untersuchungen dient.
Im Anschluss daran zeigt die Verfasserin auf, wie facettenreich das Vokabular ist, das aktuell weltweit für das Phänomen der audiovisuellen Kurzform mit Lyrikbezug Verwendung findet: »Poetryfilm, Poetryclip, Poetryvideo, Videopoem, Videopoesie, Videopoetry, Cin(e)poem, Cinepoetry, Lyrikclip, Lyrikfilm und Gedichtverfilmung« ‹4› zählen zu den diversen international gebräuchlichen, aber keinesfalls synonymen Bezeichnungen.
Der Poesiefilm spaltet sich in verschiedene Untergattungen auf bzw. speist sich aus ihnen, und die Tatsache, dass es sich dabei um ein immer noch in der Bestimmung begriffenes Genre handelt, macht die Aufgabe Orphals, eine Systematik zu entwerfen, nicht leichter. Unter dem Sammelbegriff ›Poesiefilm‹ werden Lyrik-Adaptionen ebenso gefasst wie Filme, in denen das Gedicht als gesprochener oder geschriebener Text materieller Teil des filmischen Kunstwerks ist. Letztere Filme machen laut Orphal den Großteil der Poesiefilm-Produktionen aus, und daher liegt auch der Fokus ihrer Untersuchung auf diesen sogenannten »Gedichtfilmen« ‹5›, die nicht nur, so Orphal, »Kombinationen aus Gedichten und bewegten Bildern, sondern zuallererst eine Realisierung dieser Gedichte in Stimme oder Schrift« ‹6› sind.
Die Wissenschaftlerin unterscheidet im Folgenden zwei Hauptgruppen: zum einen die schriftbasierten Gedichtfilme, die – wenig überraschend – das Gedicht in schriftlicher Form in das Filmkunstwerk integrieren, und zum anderen die performanceorientieren Gedichtfilme, in denen das Gedicht gesprochen, also vom Dichter selbst oder von einem Schauspieler/Sprecher stimmlich realisiert wird. Diese besondere Verbindung von Ton und Bild ist dabei ganz offensichtlich Orphals persönliches Steckenpferd. Sie verweist mehrfach auf die allgemeine Tendenz, filmische Kunstwerke zu sehr unter dem Aspekt der Visualität zu bearbeiten, und plädiert dafür, die audiovisuellen Anteile nicht zu vernachlässigen: »Vortragende Stimme und stimmlicher Ausdruck, Mimik und Gestik, Aufnahmetechnik und Aufführungsort, Beschaffenheit, Stellung und Bewegung von Buchstaben, rhythmische Muster sowie die Wechselwirkung all dieser Elemente zur Bildebene, bilden in ihrem Zusammenspiel den Gedichtfilm, der sich in seiner Rezeptionsweise von der stillen Lektüre eines Gedichts grundlegend unterscheidet.« ‹7›
Orphals gründliche Analysen der Ton-Bild-Bezüge verdeutlichen in besonderem Maße die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstands. Nur auf den ersten Blick verortet sich der Poesiefilm als Untersuchungsobjekt direkt auf der interdisziplinären Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Filmtheorie. Tatsächlich enthalten Orphals Analysen eine beeindruckende Bandbreite an unterschiedlichen Literatur- und Medientheorien, an sprach- und stimmwissenschaftlichem Fachwissen und Performance-theoretischen Grundlagen.
Beginnend mit einem der frühesten Avantgarde-Filme überhaupt, dem Film Manhatta von Charles Sheeler und Paul Strand aus dem Jahr 1920, gibt Orphal in ihrer »kleine[n] Geschichte des Poesiefilmes« ‹8› – das Attribut ›klein‹ darf dabei getrost angesichts der Ausführlichkeit dieses Kapitels ihrer Arbeit als Understatement gesehen werden – einen detaillierten Überblick über die gesamte Geschichte des Genres. Sie spannt dabei einen Bogen von Lyrik in der Stummfilm-Ära über die Medienkunst der 1950er- bis 70er-Jahre bis hin zur zeitgenössischen Spoken-Word- und Poetry-Slam-Bewegung und reflektiert darüber hinaus auch Aspekte der modernen Massenmedien. Während der Poesiefilm im Fernsehen kaum stattfindet, hat sich vor allem das Internet als Publikationsplattform etabliert; schließlich habe, so Orphal, »der Medienwandel durch Computertechnik, Digitalisierung und Vernetzung […] einschneidende Auswirkungen auf jede Form audiovisueller Kommunikation«, und davon sei »nicht nur die institutionalisierte Dichterlesung betroffen, sondern auch der Bereich der Film- und Videokunst« – eine Entwicklung, die aktuell zum »Umbau ganzer Mediendispositive« führe. ‹9› Festivals wie das ZEBRA Poetry Film Festival tragen zur weiteren Verbreitung des Mediums bzw. Genres und zu einer fortgesetzten Professionalisierung seiner wissenschaftlichen Bearbeitung bei.
Stefanie Orphal ist mit ihrer Dissertation nichts weniger als das erste deutschsprachige Standardwerk über den Poesiefilm gelungen. Ihre umfangreiche Vorstellung und Untersuchung des Phänomens beinhaltet zahlreiche kluge (Poesiefilm-)Analysen, die dem Leser viele wertvolle Anknüpfungspunkte in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern bieten.
Stefanie Orphal, Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium. (Weltliteraturen/World Literatures 5) De Gruyter, Berlin – Boston 2014. 310 S., € 89,95.
Anmerkungen:
‹1› Stefanie Orphal: Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium. Berlin, Boston: de Gruyter, 2014, S. 18.
‹2› Ebd., Kapitel 1.1, S. 18–29.
‹3› Ebd., S. 26.
‹4› Ebd., S. 30.
‹5› Ebd., S. 37.
‹6› Ebd., S. 149.
‹7› Ebd.
‹8› Ebd., Kapitel 2, S. 72–148.
‹9› Ebd., S. 135 f.
Über die Rezensentin |
Catrin Prange hat Germanistik, Romanistik, Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert. Während des Studiums absolvierte sie eine Zusatzausbildung in der Leitung von Gruppen im kreativen literarischen Schreiben. Seit 2014 bildet sie, gemeinsam mit Dr. Katrin Bothe, am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburger Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer im Kreativen Schreiben aus und entwirft die Arbeitsmaterialien für den Hamburger Schreibwettbewerb KLASSEnSÄTZE. An der Universität Hamburg unterrichtete sie am germanistischen Institut Seminare zu den Themen »Poetry Slam« und »Slam Poetry als Genre« sowie am Institut für Erziehungswissenschaften »Kreatives Schreiben und Spoken-Word-Performances in der Oberstufe«. Zu ihren Forschungsinteressen zählen die zeitgenössische deutsche Lyrik, speziell die Spoken-Word-Lyrik von 2000 bis heute und deren Live-Performance durch Dichterinnen und Dichter. In ihrer Dissertation Sprechtexte: Nora Gomringers Poetik der konkreten Klanglichkeit widmet sich Catrin Prange einer der produktivsten deutschsprachigen Gegenwartsdichterinnen. |