Poetische Filme verbinden auf lyrische Weise eindrucksvolle Bilder und erzielen ihre Wirkung durch die Kameraarbeit. Doch mit Gedichten haben diese Filme oft wenig zu tun. Die Begriffe wie ›lyrisch‹ oder ›poetisch‹ werden im Medium Film gerne nur auf das Visuelle reduziert – nicht so bei den Poesiefilmen. Für die Rezeption und Verbreitung von Poesiefilmen sind sowohl Festivals als auch das Internet immens wichtig.
Poesiefilme sind fast so alt wie das Filmemachen selbst. Die erste bekannte Gedichtadaption entstand 1905 in den Studios von Thomas Alva Edison in New York. Damals verfilmte Edwin Stanton Porter das bekannte Gedicht Twas the night before Christmas (1822) von Clement Clark Moore. Diesem frühen Beispiel folgten viele weitere FilmemacherInnen. [1] Ganz allgemein kann man Poesiefilme als Kurzfilme definieren, die auf Gedichten basieren und sich inhaltlich, ästhetisch oder formal mit ihnen auseinandersetzen. Dies ist auch eines der Aufnahmekriterien des ZEBRA Poetry Film Festival [2], das seit 2002 alle zwei Jahre in Berlin stattfindet. Weltweit gab und gibt es einige Filmfestivals, die ausschließlich Poesiefilme präsentieren und prämieren. Die verschiedenen Kriterien und Begriffe, wie z. B. Videopoem, Cinepoem, Filmpoem, Poetry Clip etc., wurden von Festival- und FilmemacherInnen sowie WissenschaftlerInnen festgelegt. [3]
Der Poesiefilm bedient sich – durch seine meist nicht narrativen Vorlagen – verschiedener Genres, wie der Animation, dem Spiel- oder dem Experimentalfilm, und vermischt sie oft miteinander. Durch diesen freien Genrewechsel kann er mannigfaltig und individuell den lyrischen Vorlagen antworten. Dabei sollte das Verhältnis zwischen Film und Gedicht ausgeglichen bleiben. Der Film kann zum Beispiel durch seine Schnitt- und Perspektivfolge, seinen Szenen- und Genrewechsel sehr präzise auf das Gedicht antworten oder ihm auch entgegenarbeiten. Eine reine Illustration des Gedichts ist hingegen eine Doppelung seines Inhaltes, bei der die filmischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. FilmemacherInnen sollten durchaus die Gedichte interpretieren oder die Gefühle und Eindrücke, die sie in Ihnen hervorrufen, in eigene Bilder übersetzen. Emotionen, wie Trauer, Ärger, Angst, Freude oder Liebe, geben oft den Anlass bzw. den Antrieb für das Schreiben. Genau diese Gefühle sollten in der filmischen Adaption zu spüren sein. Entscheiden sich die FilmemacherInnen für eine musikalische Begleitung oder für das Einsprechen des Gedichtes, sollten sie auf die Qualität achten. Einfache musikalische Untermalung oder ein mäßig gesprochenes Gedicht können sich nachteilig auf den filmischen Gesamteindruck auswirken.
Oftmals entstehen aus diesen starken Emotionen eindrucksvolle Bilder und damit auch hervorragende Poesiefilme, die, bedingt durch ihren freien Genrewechsel, auf verschiedenen Filmfestivals präsentiert werden. Leider fehlt in den meisten Beschreibungen der Hinweis, dass diese Filme auf Gedichten basieren, was KuratorInnen die Suche nach Poesiefilmen erschwert. Allein beim ZEBRA werden zweijährlich bis zu 1.000 Poesiefilme eingereicht. Dies lässt vermuten, dass die Zahl der neuen Gedichtverfilmungen in die Tausende geht und viele unentdeckt bleiben.
Eine Annahme, die auch von den sozialen Netzwerken gestützt wird. Die große Popularität von audiovisuellen Gedichtadaptionen spiegelt sich in der rasant wachsenden Zahl sowohl der Uploads als auch der Klicks wider. [4] So verwundert es nicht, dass in den letzten Jahren immer mehr Film- und Literaturfestivals dem Genre eigene Programme gewidmet haben. [5] Durch seine mediale Form und seine Kürze eignet es sich sehr, Lyrik einem breiten Publikum näher zu bringen, wie z. B. SchülerInnen und Jugendlichen, Filmliebhabern etc. Kurze Clips werden gerne zwischendurch angeschaut und mit Freunden oder der Öffentlichkeit geteilt, weshalb sich in den letzten Jahren die sozialen Netzwerke zu neuen Distributionskanälen für Lyrik entwickelt haben, die auch von WissenschaftlerInnen und KuratorInnen für die Recherche genutzt werden. Man kann also sagen, dass sowohl Filmfestivals als auch das Internet die wichtigsten Plattformen und Distributionskanäle für Poesiefilme sind.
[1] THE UNCHANGING SEA (USA 1910) von D. W. Griffith nach dem gleichnamigen Gedicht von Charles Kingsley, MANHATTA (USA 1921) von Charles Sheeler und Paul Strand nach Walt Whitmans gleichnamigen Gedicht, L’INVITATION AU VOYAGE (F 1927) von Germaine Dulac nach Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal, COMBAT DE BOXE (B 1927) von Charles Dekeukeleire nach dem gleichnamigen Gedicht von Paul Werrie, L’ETOILE DE MER (F 1928) von Man Ray und Robert Desnos nach seinem Gedicht La place de l’etoile (1928). Diesen Filmmachern und Künstlern folgten noch viele, wie z. B. Maya Deren, Gerhard Rühm, Valie Export, Peter Weibel, Tim Burton oder Walt Disney.
[2] Es können Filme mit einer Länge bis zu 15 Minuten eingereicht werden, die nicht älter als drei Jahre sind. Dem Festival ist es vorbehalten, auch Filme länger als 15 Minuten zu zeigen. Alle eingereichten Filme müssen audiovisuelle Umsetzungen eines oder mehrerer Gedichte sein.
[3] Orphal, Stefanie: Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium. Berlin, Boston: De Gruyter 2014.
[4] Es gibt tausende Poesiefilme, die von sehr vielen Besuchern angeschaut werden, wie z. B. Andrea Dorfman/Tanya Davis: How To Be Alone. Kanada 2009, 4:34 Min. (7,3 Mio. Klicks bei Youtube).
[5] Lyrikertreffen Münster, International Poetry Festival Rotterdam, Festival Internacional de Poesía de Medellín, LOOP Barcelona, Oslo Poesifestival etc.
Über den Autor Thomas Zandegiacomo Del Bel lebt in Berlin und hat Germanistik, Romanistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft in Mannheim studiert. Er arbeitet als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Seit 2006 ist er Künstlerischer Leiter des ZEBRA Poetry Film Festival und Filmkurator für interfilm Berlin. Außerdem ist er als Jurymitglied bei verschiedenen Filmfestivals und als Medienpädagoge tätig. |
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