Film des Monats

Ode To Anxiety

Film des Monats September 2018 •

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er italienische Poesiefilm »Ode to Anxiety« ist mit 32 Sekunden einer der kürzesten seines Genres. In ihm singt Milena Tipaldo ein Lied auf die Angst und bändigt diese durch das Bild.

Eine der schönsten Vorlesungen zur Literatur ist nie gehalten worden, weil es ihrem Verfasser nicht vergönnt war. Als der italienische Schriftsteller Italo Calvino am 13. September 1985 in seinem Sommerhaus bei Siena verstarb, hinterließ er das später unter dem Titel Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend veröffentlichte Manuskript (dt. Hanser 1991). Er hätte es auf Einladung der Harvard-Universität als Charles Eliot Norton Poetry Lectures halten sollen. Calvino gliederte seine Vorlesungen nach literarischen Tugenden, die auch allgemein als künstlerische Tugenden verstanden werden können. Er schreibt über die »Leichtigkeit«, die »Schnelligkeit«, die »Genauigkeit«, die »Anschaulichkeit« und die »Vielschichtigkeit«. Eine letzte, unausgeführt gebliebene Vorlesung wollte er der »consistency«, der Konsistenz oder Haltbarkeit widmen.

Ich muss an Calvinos Tugenden denken, wenn ich den kleinen Film Ode to Anxiety von Milena Tipaldo sehe, die übrigens zwei Wochen nach Calvinos Tod im französischen Annecy geboren wurde. Dieser Kürzestfilm von bloß 32 Sekunden hat vieles von dem, worauf es Calvino ankam.

Obschon in Frankreich geborgen, wuchs Tipaldo in Italien auf und studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Genua. Anschließend zog es sie nach Turin, um sich am Centro Sperimentale di Cinematografia in Animation weiterzubilden. In ihrem Abschlussfilm Mamma Mia, er ist auf Vimeo zu sehen, erzählt sie auf humorvolle Weise die Geschichte ihrer Familie; im Mittelpunkt steht ihre Mutter.

Im Netz sind weitere Kurzfilme zu sehen, an denen sie mitgearbeitet hat: zum Beispiel der Bukowski-Film Beer, produziert vom Nerdo-Studio, oder ein Werbespot für HOONEY, der ihre aktuelle zeichnerische Sprache schon deutlicher zu erkennen gibt. Gegenüber den früheren Filmen werden die Linien und Umrisse ruhiger, minimalistischer, effektiver.

In Ode to Anxiety verzichtet sie gegenüber Mamma Mia auf die Farbe und treibt damit eine Reduktion der Aussagemittel voran, die zur Konzentration auf wenige Elemente führt. In einigen Aspekten fühlt man sich an moderne Modezeichnungen erinnert, teilweise auch an die kubistische Dekomposition der Dingwelt, die nur anhand der Silhouetten wieder zu einem künstlerischen Kosmos aufgebaut wird. Der Film erzeugt eine ungemeine Schaulust, die vom raffinierten Umgang mit dem Bildfeld herausgefordert wird, das so komplex aufgebaut ist, dass man nicht zugleich alle Teile des Bildes übersehen kann. Es bedarf einer mehrfachen Wahrnehmung.

Dieses Spiel von Punkt und Linie zu Fläche, das Wassily Kandisky (1866–1944) während seiner Bauhaus-Zeit in seinem 1926 erschienen Buch beschrieben hat, beherrscht Milena Tipaldo auf ihre Weise perfekt: Der Umgang mit Punkt, Linie, Fläche oder Format, die Kombination von organischen Formen des menschlichen Körpers mit abstrakten wie dem Pfeil, dem Kreis oder Quadrat erinnert an die Avantgarde-Kunst. Dadurch wird gleichzeitig ein nostalgisches Gefühl erzeugt. Obschon alle Formen digital animiert wurden, glaubt man Zeichenkunst des 20. Jahrhunderts zu sehen.

Neben dieser Mischung aus Modernismus und Nostalgie überrascht Tipaldos Film durch sein geschicktes Spiel mit Tempo und Verzögerung, das durch die Musik unterstützt wird. So gelingt es diesem kleinen Film, in nur wenigen Sekunden eine besondere Zeiterfahrung hervorzubringen. Die Integration des Textes ins Bild ist dabei nicht unbedingt lesefreundlich, dafür jedoch grafisch ausbalanciert in Szene gesetzt.

Die Angst kriecht aus dem Bauch der liegenden Frau wie ein Insekt, das in ein menschliches und zugleich undefinierbares Wesen mutiert, das auf ihr seinen Handstand macht, ehe essich nach einem Luftsprung zu einem bizarren Vogel verwandelt, der mit seinem Schwanz wedelt und mit seinem spitzen Schnabel den Bauch der liegenden Frau zertrennt. Doch bei Sekunde 18 dreht sich das Bild im buchstäblichen Sinne und aus dem bedrohlichen Vogel wird ein singendes und auf einem Bein stehendes Etwas. Die liegende Frau scheint dies nicht zu berühren; sie bleibt unverändert und bewegt kaum einmal ihre Finger.

Milena Tipaldo hat ihren Film einen ›Exorzismus‹ genannt. Dies ist nicht religiös zu verstehen; wohl eher im Sinne Italo Calvinos, der seine Aufgabe als Schriftsteller unter anderem damit begründete, dass er den Dingen ihre Schwere nehmen wollte. Genau von dieser Leichtigkeit handelt dieser Poesiefilm: Indem er ein Lied auf sie singt, verwandelt er die Angst in etwas Schönes.

Ode all’ansia

Milena Topaldo

Fedele compagna
Che mi guardi divertita
Da quanto ci conosciamo?
Pare una vita!
Tu che con grazia
Sul mio stomaco poggi
Dimmi tu che lo divori
Cosa ho mangiato oggi?
Il tuo nome con cui
Nessun gioco fa rima
È ansia di merda,
Delle piaghe la prima.

Lied an die Angst

Treuer Begleiter
der du mich amüsiert ansiehst
Wie lange kennen wir uns schon?
Es scheint ein ganzes Leben!
Du, der anmutig
Auf meinem Bauch stehst
Sag mir, dass du es frisst
Was habe ich heute gegessen?
Dein Name mit dem sich
Kein Spiel reimt
lautet beschissene Angst,
erste aller Plagen.

Übers. G. Naschert

Informationen zum Film
ODE TO ANXIETY
Italien 2017 • Animation • 0:32 min
Animation u. Text: Milena Tipaldo
Sounddesign: Enrico Ascoli