Film des Monats März 2017 •
Rauch wie Milchstraßennebel, ein Fallen in Zeitlupe, Papierflieger, die durch ein Leben reisen – »Nostalgia: A visual Poem«, ein Poesiefilm der niederländischen Regisseurin Judith Veenendaal nach einem Text von Johnny B.A.N.G. Reilly, erzählt von Erinnerung, Freiheit, Narben und Selbstbestimmung.
Nostalgia spricht mich sehr an. Ich bin emotional berührt und werde in eine melancholische Stimmung versetzt, etwas, das ich sehr schätze. Die Bilder sprechen mich an, die Musik, die Worte dazu. Von einem Leben wird erzählt und wie bei jeder guten Betrachtung darüber wird dabei das Vergehen der Zeit in den Mittelpunkt gestellt – eine große Tragödie einerseits, eine Chance ebenso.
Ich sehe einen Jungen auf einem BMX-Rad. Ich sehe rückwärts abgespielten Zigarettenrauch, der sich wie helle Milchstraßennebel in einem schwarzen Universum ausbreitet. Ich sehe gefaltete Papierflieger. Ich sehe ein Leuchtfeuer in dunkler Nacht. Ich sehe einen Menschen in Zeitlupe fallen.
Ich sehe diesen Menschen als Jungen und als alten Mann. Er ist in den selben Räumen, die vielleicht nur die gleichen sind. Er ist in der Zeit gewandert, anders geworden und doch ähnlich geblieben, weil er – wie mir seine Worte sagen – die Zeit als Freiheit begreift, das eigene Leben zu gestalten.
Ich bin melancholisch; und doch dank der Worte, die von Mündigkeit, Aufbruch, Narben und Kämpfen erzählen und dank der hymnischen Pianotöne zugleich optimistisch. Denn so ist es die gute Melancholie, keine, der man mit Antidepressiva begegnen müsste, es ist die Melancholie, aus der epochale Romane und bewegende Filme ihre Schwerkraft schöpfen.
Eine Woche vergeht, bis ich den zwei Minuten dauernden Poesiefilm erneut sehe. Diesmal ist das Gefühl der Melancholie noch intensiver, die Wehmut um das Vergangene noch gewaltiger, so süß der Schmerz um das fremde, fiktionale, trotz der Schwierigkeiten so selbstbestimmt gestaltete Leben, dass ich, ganz ergriffen davon und meiner Fähigkeit, so intensiv zu empfinden, in diese Stimmung begeistert eintauche und mich von ihr umfangen lasse.
Die Bilder wirken stärker, die Musik, die Worte selbst sind eine Erinnerung, eine Erinnerung an mein erstes Schauen, ein Abrufen meines ersten Empfindens von Melancholie und Selbstbestimmung. Beides hat sich verdoppelt, vielleicht sogar ins Quadrat gesetzt, weil ich bei jedem Bild schon weiß, wofür es steht und stehen wird und welchen Verlauf die Geschichte nimmt, die Geschichte eines Lebens, auf das nun zurückgeblickt wird, mit Zärtlichkeit, mit Wehmut, aber auch mit Stolz auf das Erreichte. Wann immer der Papierflieger ins Bild kommt, weiß ich nun schon, dass er am Ende des Films gemeinsam mit vielen anderen Fliegern starr in der Luft hängen wird, ein Bild, das sich einbrennt, eine Metapher natürlich, die Zeit, die köstlich verstreichende Zeit, dazu das Summen des bon-iver-haften Männerchors, diese warm angeschlagenen Pianotasten, Seelenmusik.
In den folgenden Wochen schaue ich Nostalgia immer wieder, so wie man immer wieder ein Lied hört, Moon River als Beispiel oder My Way in der Version von Sid Vicious. Es ist so unsagbar traurig.
Irgendwann beginne ich mich zu fragen, ob ich hier manipuliert werde, eine Frage, die ich sofort bejahen kann und gleich frage ich mich, wie das geschieht und ob nicht jeder Film, jedes Gedicht, jedes Lied, das etwas in mir auslöst, eine Manipulation ist und wie freiwillig ich mich der Manipulation aussetzen möchte.
Weil ich das unbedingt möchte, schaue ich Nostalgia weiterhin, zwei Minuten am Tag sind keine Hexerei, wie ein Kaffee am Morgen, damit ich den Tag lang melancholisch und zuversichtlich auf die Welt schauen kann.
Noch viel später, es ist mittlerweile Februar und ich soll für den Poetryfilmkanal Nostalgia in Worte fassen, finde ich endlich zu den Zweifeln. Säße ich in einem Businessmeeting, würde ich die Anwesenden fragen, ob mich Nostalgia nicht abholt – mir also genau das gibt, wonach ich verlange. Ich frage mich, ob es beim Schauen auch nur eine Sekunde gegeben hat, in der ich gestutzt habe, in der Bild, Musik, Wort gegeneinander liefen, in der ich irritiert stolperte, ein Moment, in dem sich ein Bruch aufgetan hat und darunter ein Abgrund zu erahnen war, in dem es Nostalgia mir nicht leicht machen wollte, in dem es meinen Widerspruch eingefordert hat, es kratzbürstig gegen sich selbst gewesen ist in seiner Erhabenheit und Zuversicht, in der es die Perfektion aufgeraut hat und sich selbst als Illusion wahrnahm – wie jede Konstruktion von Erinnerung, wie jeder Blick auf Narben –, mehr sein wollte als Projektionsfläche meiner Sehnsucht, das Vergehen von Zeit als Freiheit und nicht als Schmerz zu verstehen, ein Augenblick, in dem Nostalgia meine Gedanken wollte, nicht meine Gefühle.
Diese Sekunde, muss ich mir eingestehen, habe ich nicht gefunden. Die finde ich erst jetzt beim Schreiben. Und beim Schreiben positioniere ich mich gegen mich selbst und frage zurück, ob es denn diese Sekunde überhaupt geben muss, ob in zwei Minuten Poesiefilm die Antithese zu sich selbst eingebaut sein sollte, ob es nicht genauso genügt, ob es nicht schon ein kleines Wunder ist, wenn ein Gedichtfilm mich derart erfolgreich betäubt mit einem der schönsten aller Gefühlszustände – der zuversichtlichen Melancholie.
INFORMATIONEN ZUM FILM
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