Film des Monats Februar 2016 •
Die Ausstellung »Seismographic Sounds. Visionen einer neuen Welt« des CTM-Festivals im Berliner Kunsthaus Kreuzberg/Bethanien stellt in diesem Jahr Nischenmusikszenen vor, die Krieg und Kommerz, Rollenbilder und kulturelle Klischees hinterfragen.
Neben Klangkunst-Installationen sind Musikclips jenseits des Mainstreams zu sehen, mit der die Künstler sich die Digitalisierung und Globalisierung zunutze machen, um sich über die sozialen Medien Gehör zu verschaffen. Kuratiert wird die Ausstellung von Norient.
Die interaktive Installation »matter of fact« von Svetlana Maraš sticht besonders heraus. Die 1985 in Serbien geborene und in Belgrad und Helsinki ausgebildete Künstlerin arbeitet an der Schnittstelle von experimenteller Musik, Klangkunst und den neuen Medien. Ihre Ausdrucksformen reichen von elektroakustischen Kompositionen über Installationen und Performances bis hin zu Web-Applikationen oder Musik für Film und Theater. So ist auch »matter of fact« nicht eindeutig einem Genre zuzuordnen. Lassen sich die Videoclips, die über einen interaktiven Kubus aktiviert und abgespielt werden, überhaupt als Poetryfilme bezeichnen? In der Tat denken wir, dass es sich hier um einen spannenden Grenzfall zwischen künstlerischer Rauminstallation und Poetryfilm handelt.
Denn mit dem Auflegen der einzelnen Miniatur-Wortskulpturen MYSELF, DIFFERENCES, SOCIETY, DEPRESSION und PEOPLE auf den Kubus entstehen vor dem Auge des Betrachters ganz eigene Bild- und Klangwelten. Die zu aktivierenden Videos setzen sich aus animierten, digital generierten Flächen, Objekten und Textfragmenten zusammen, die mit Voice-over-Schnipseln und weiteren Klängen zu einem audiovisuellen Gesamteindruck verschmelzen. Die eingeblendeten Texte sind auch auf der Audioebene hörbar – nicht zwingend simultan, doch immer aufeinander bezogen. Jeder der fünf Videoclips schafft eine eigene Atmosphäre, die sich aus der jeweiligen Beschaffenheit der Formen, der Farbklänge und des Sounds ergibt. Der Betrachter wird förmlich in diese Klang- und Bildwelt hineingezogen; es entsteht eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann.
Das Video PEOPLE* beispielsweise ist in rot-rosa-blauen Farbtönen und -verläufen gehalten. Vom Intro abgesehen überwiegen fluktuierende Formen und fließende Bewegungen. Der Text besteht aus kurzen Zitaten, die durch Schnitt und Montage von Wortfragmenten zusammengefügt sind. Die einzelnen Stimmen ergänzen sich dabei, werden durch Gospel- und andere sakrale Gesänge gebrochen und verschmelzen so zu einem postmodernen Chor. Das Prinzip der Wiederholung und die Cut-up-Technik, die von den Autoren der Beat Generation erfunden und eingesetzt wurde, erkennt man am einfachsten durch die Verschriftlichung:
»WE – WE – WE – WE FIGHT – WE LOVE – WE THINK – INDIVIDUALLY
WE – WE – WE – WE FIGHT – WE LOVE – WE THINK – INDIVIDUALS – INDIVIDUALLY
WE – WE – WE – WE FIGHT – WE LOVE – WE THINK – INDIVIDUALLY
ORCHESTRA OF THE SELF
SELF REFERENTIAL COSMOS
ORCHESTRA OF THE SELF
OF THE SELF
OF THE SELF
ORCHESTRA
PEOPLE
SELF
DIFFERENT LIFESTYLES
SELF REFERENTIAL COSMOS
COMBINING ME WITH MYSELF
COMBINING ME WITH MYSELF
PEOPLE (COMBINING ME WITH MYSELF)
PEOPLE (COMBINING ME WITH MYSELF)
PEOPLE (COMBINING ME WITH MYSELF)
SELF – ORCHESTRA OF THE – PEOPLE
ORCHESTRA OF THE SELF
only voice-over:
COMBINING ME WITH MYSELF
COMBINING ME WITH MYSELF
COMBINING ME
COMBINING ME
COMBINING ME«
Als Quelle der Wortschnipsel verwendete Maraš überwiegend Interviews mit anderen Ausstellungsbeteiligten. Diese fügt sie nach Inhalt des gesprochenen Textes und dem musikalischen Gehalt der Stimmen zusammen. Da die Extrakte meist nur aus ein oder zwei Worten bestehen, schafft Maraš durch ihre Cut-ups neue Bedeutungszusammenhänge. Dabei geht die Künstlerin auf der Klangebene in jedem Video anders mit den Formen und der Manipulation des Materials um.
Im Video SOCIETY ** zum Beispiel sind die Stimmen stellenweise stärker verfremdet. Dieses Video ist rhythmischer gestaltet als die Videos MYSELF und PEOPLE. Es nähert sich damit dem Musikvideo an. Auch die (selbst)reflexive Grundhaltung der genannten Beispiele wird in SOCIETY aufgegeben. Schon zu Beginn suggerieren sowohl die Audio- als auch die visuelle Ebene Tempo. Zum Ende hin klingen die Zitatfetzen »TURN THE FOCUS – CHANGE THE WORLD – TO WHERE YOU WANT TO GO – A BETTER FUTURE« wie Slogans.
Ist das ein Aufruf der Künstlerin, die Welt zu ändern? Oder handelt es sich um die bloßen, uns so vertrauten Werbeslogans? Mit dem Zitat »THE LIFE ON TV DOES LOOK MUCH BETTER ANYWAY SO I MEAN HEY …« wird der Betrachter mit genau dieser Ambiguität konfrontiert, die von Maraš bewusst kalkuliert ist: »(…) sometimes it’s like a horoscope: so general that you can relate to it but it can also be so wrong and completely miss the point.«
Die Installation »matter of fact« arbeitet gekonnt mit dem Verhältnis von Text als Objekt, als vielfach kombinierbares, semiotisches Fragment oder als grafisch-visuelles Element. Insgesamt ermöglicht sie dem Betrachter ein lebendiges, postmodernes, audio-visuelles Gesamterlebnis. Durch ihre vielschichtigen Synästhesien von Text, Sound und Visualisierung gelingen der Videoinstallation fließende Übergänge zwischen Schrift- und Poetryfilm.
* Svetlana Maraš: PEOPLE [excerpt] auf Vimeo.
** Svetlana Maraš: SOCIETY [excerpt] auf Vimeo.
Informationen zur Installation und zum Film |
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