Film des Monats November 2018 •
In ihrem Film »Leerstelle« (2016) setzt sich die Leipziger Animationskünstlerin Urte Zintler mit dem Thema ›Heimat‹ auseinander. Mit den Mitteln von Zeichnung, Rotoskopie und Collage und gestützt auf Texte der Lyrikerin Hilde Domin beschreibt sie eindrucksvoll die schwierige Suche nach einem Ort der Ankunft und Ruhe.
Der Kurzfilm Leerstelle ist ein ungewöhnlicher Poesiefilm: Fragmente aus drei Gedichten von Hilde Domin sind hier verwoben mit Klängen aus Karlheinz Essls Aria Electronica I und einem animierten Liniennetz, das zwischen erkennbar Gegenständlichem und bewegten Linienkonstellationen oszilliert und die Augen des Betrachters vom ersten Moment an gefangen hält.
»Das Stück Aria Elektronica I aus Gold.Berg.Werk von Karlheinz Essl habe ich nach einer langen Recherche in vielen verschiedenen Bereichen der Musik ausgewählt,« bemerkt Urte Zintler im Interview, »weil es sich wie ein autarker Klangteppich über den Film erstreckt, ihm fast traumartige Züge verleiht.« Der österreichische Komponist (Jg. 1960) setzt sich in seinem Stück mit Bachs Goldberg Variationen auseinander, wobei das Original in der musikalischen Adaption erkennbar bleibt. Ein ästhetisches Prinzip, welches die 1975 geborene und in Luxemburg, Kassel und Leipzig ausgebildete Filmemacherin in ihrem Film aufgegriffen hat, denn den gezeichneten Sequenzen liegen durchweg Realfilmvorlagen zugrunde. So ist beispielsweise für einige Sekunden das markante Gesicht der italienischen Schauspielerin Anna Magnani (1908–1973) erkennbar, welche die Hauptrolle in Pier Paolo Pasolinis Film Mamma Roma (1962) spielte (1:26–1:46 min). Andere Sequenzen wiederum stammen aus Zintlers eigenem Archiv und sind so stark verfremdet, dass lediglich das Wie der Bewegung eine Referenz auf das Realbild darstellt.
Am Anfang der Filmproduktion stand die Beschäftigung mit der Musik. Die Bild-Musik-Sound-Beziehung wirkt daher in diesem Film besonders intensiv. Erst im weiteren künstlerischen Prozess wurden die Auszüge aus bekannten Gedichten von Hilde Domin zusammengestellt, wobei Zintler einzelne Verszeilen aus dem Kontext zweier Gedichte herausnimmt und durch die Zusammenstellung mit neuer Bedeutung auflädt. Der Film beginnt mit den Schlussversen aus dem Gedicht Noch gestern (1959). Das Bild vom ›kleinen Strich‹ aufgreifend setzt das Voice-over dann mit den Anfangsversen aus dem Gedicht Wie wenig nütze ich bin (1957) fort. Als Höhepunkt des Films folgt schließlich das vollständige Gedicht Ziehende Landschaft (1955), wobei das stark gehauchte Voice-Over mit der Stimme von Anna Hopperdietz die Textcollage zu einem inneren Selbstgespräch werden lässt.
Visuell beginnt der Film mit dem Bild von Brandung und Welle, das den »Strom, den du nie mehr überquerst« aus Domins Gedichtfragment Noch gestern assoziieren lässt. Es folgen in einer Bildsequenz eine Mutter mit Kind, Stadtlandschaften, die Ruinen der Nachkriegszeit erahnen lassen, ineinandergreifende Hände, eine senkrechte Textur von Linien begleitet von den Geräuschen fahrender Züge. Gleichsam als Intermezzo ohne lyrischen Text erscheint erneut das Bild der Mutter mit Kind, dieses Mal jedoch sehr verschwommen, gefolgt von einem Close-up auf das schwer atmende Gesicht Anna Magnanis aus Mamma Roma.
Es ist ein geschickter Coup dieses Films, auf das vergleichsweise gegenständliche Intermezzo mit einer sehr abstrakten Linienfolge zu antworten, die dem zentralen Gedicht Ziehende Landschaft visuell Raum gibt. Die Linien verschränken sich zu einem dichten atmosphärischen Geflecht, das sich formiert, vervielfältigt, auffächert, verdichtet, überlagert und auflöst … um sich sodann erneut zu formieren. Aus einem abstrakten Spiel zweier Linien entsteht ein komplexes Kaleidoskop. Zum Ende des Gedichts invertiert es sich ins Schwarze, was den Themen ›Tod‹ und ›Grab der Mutter‹ korrespondiert. Die lange Schlusssequenz (2:30–3:38) führt uns mit von Musik getragenen, durch den Bildraum treibenden Mustern, die durch Vogel- und Brandungsgeräusche ergänzt werden, ans Meer zurück und weiter zur Leere des weißen Papiers.
Alle Elemente des Films, Bewegtbild, Text, Musik und Sound, scheinen den gleichen Stellenwert zu haben. Dennoch besteht der starke Reiz des Films in der besonderen Beziehung von Bild und Musik, die vor allem im Schlussteil deutlich hervortritt. Ein zentrales Thema des Films, der mehrfach prämiert wurde und im April 2018 anlässlich der Animationsfilmnacht des MDR im Fernsehen zu sehen war, ist auf der visuellen Ebene das Spiel von Konstruktion und Dekonstruktion, von Gestaltwerdung und Auflösung in der Zeit und durch die Zeit, das wir hier als gezeichnetes ebenso analoges wie digitales Raumgeschehen wahrnehmen können.
Dieses Geschehen erzeugt spannende Resonanzen zur lyrischen Textcollage, die man in ihrem Rhythmus und Wechsel im Poetryfilm so bisher noch nicht sehen konnte. Das Bewusstsein der Vergeblichkeit, der Fremde, der Heimatlosigkeit hat in den Texten Hilde Domins nicht nur nationale, sondern vor allem auch existenzielle und anthropologische Dimensionen. Die 1909 als Hilde Löwenstein geborene deutsch-jüdische Autorin hatte nach Stationen in Italien, Frankreich und Großbritannien 22 Jahre zusammen mit ihrem Mann im Exil in der Dominikanischen Republik verbracht, ehe sie 1954 nach Westdeutschland zurückkehrte und als Lyrikerin unter dem Künstlernamen Hilde ›Domin‹ hervortrat. Die Erfahrungen des Exils haben in ihren Gedichten eine einfache und klare Sprache gefunden, die immer darum bemüht ist, das persönlich Erlebte allgemeinverständlich zu halten.
Dem im Titel aufgerufene Begriff der ›Leerstelle‹, ein Terminus der Literaturtheorie, kommt hier weniger die rezeptionsästhetische Bedeutung zu, die der Konstanzer Anglist Wolfgang Iser in seinem Buch Der Akt des Lesens entfaltet hat: »Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen« usw. Obschon es auch in diesem Film viele Stellen gibt, die der Betrachter mit seinen Assoziationen füllen muss. Vielmehr geht es Urte Zintler um eine Leere anderer Art: »Leere ist nicht unbedingt die Abwesenheit von Dingen, sondern die Befreiung aus einem chaotischen System. Die Leere auf dem Papier, die Einfachheit einer einzelnen horizontähnlichen Linie spielen darauf an. Die Metapher der Welle, die immer wieder variiert wird, deutet auf die Bewegung der Grenze, das Nicht-abgrenzbare, die fließenden Übergänge.«
Urte Zintler gelingt es auf eindrückliche Weise, die Stimmungslage der Verse Hilde Domins, die Atmosphäre von Flucht und Exil, die Erinnerung an eine verlorene Heimat und die Sehnsucht nach dieser visuell erfahrbar zu machen. Auch die Gedanken und Gefühle der Betrachter erhalten durch ihre Zeichnungen den nötigen Raum, um sich auf die Komplexität des Themas einlassen zu können.
Die Auszüge aus den Gedichten von Hilde Domin
»Keiner außer dir kennt die kleine Linie, »Wie wenig nütze ich bin, Die Zeit verwischt mein Gesicht, Ich war hier. »Man muß weggehen können Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 149, 30, 13. |
Informationen zum Film |
LEERSTELLE Deutschland, 2016 • Animation • 4:30 min Animation: Urte Zintler Voice-over: Anna Hopperdietz Text: Hilde Domin Musik: Karlheinz Essl Preise: Prädikat »besonders wertvoll« von der FBW (Deutsche Film- und Medienbewertung), 2016; Jurypreis für den besten Animationsfilm auf dem »Kurzsüchtig« Festival in Leipzig 2016. |
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