Zu Andrea Wolfensbergers Recherchen im Grenzland zwischen Ton und Bild
Prolog
Am 14. März dieses Jahres ging eine Verlustmeldung durch die Zeitungsrubriken der Naturwissenschaft: Stephen Hawking ist gestorben. Über die ›Singularität am Anfang von Raum und Zeit‹ hat der britische Astrophysiker nachgedacht, dem Urknall Argumente zugeführt, der absoluten Schwärze der ›Schwarzen Löcher‹ widersprochen oder die Quantentheorie mit der Annahme herausgefordert, dass Information – in der gängigen Vorstellung seiner Wissenschaft quantitativ gleich bleibend – verschwinde. Etliche Nachrufe, die Hawkings Forschungsergebnisse tagesjournalistisch zu übersetzen suchten, hatten eine entlastende Botschaft gemein: Was ihn zu seinen wissenschaftlichen Theorien angehalten habe, übersteige die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Daran musste ich denken, als ich mit Andrea Wolfensberger in ihrer Basler Galerie vor dem kreisrunden Relief stand, dessen Topografie die Audioaufzeichnung eines Gedichts der libanesischen Autorin Hanane Aad in Hartgips kreisen lässt.
»Wie es technisch zu dieser Formation kommt«, meinte die Künstlerin, die mir die grundlegenden Schritte von der akustischen Vorlage zum plastischen Ergebnis bereits auf einem Blattrand skizziert hatte, »musst du vielleicht gar nicht genau wissen. Es ist eine Übersetzung.« Der konzentrisch organisierte Wellengang von Licht und Schatten lässt die materielle Substanz wie eine digitale Simulation erscheinen: Mal etwas höher, mal flacher erheben sich Strahlen von einem inneren Kreis zur Peripherie, durchdrungen von einer ebenso zum Relief ausgebildeten Spiralbewegung. Ich dachte an ein Rad, dessen Speichen in Filmaufzeichnungen zu einer vor- und rückwärts vibrierenden Scheibe mutieren; an Zifferblätter, an den Effekt von Wassertropfen in Pfütze oder See, an ein Modell von Planetenbahnen. Und ich frage mich, ob eine Kunst, die so ernsthaft ihren digitalen Datensatz aus der Poesie bezieht, nicht letztlich jener ›Realität‹ am nächsten kommt, die im Wort, seinem Fragen und Sehnen den Ursprung aller Dinge weiß.
Atemlose Bilder: Niemands Frau
Manchem Werk führen tagespolitische Ereignisse unauffällig und konstant Brisanz zu. Die Video-Arbeit Niemands Frau : Movies (2007) von Andrea Wolfensberger mit Barbara Köhlers Tonspur ist ein solches Werk. Kaum ein Tag, geschweige denn eine Woche vergehen ohne Meldungen über in Seenot geratene Bootsflüchtlinge und ohne das Bild von Migranten, denen ein Festland nördlich des Mittelmeers Heimat und Existenz verheißen. Und auch wenn Wolfensbergers Werk mehr an der Struktur von Bildern und am Rhythmus von Sprache liegt als am Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik: Ihr bewegtes Blau und das Schiff im Wellengang sind getränkt vom Drama der aktuellen Migration, während sie wörtlich auf die antike Odyssee bezogen sind.
»… wie kann man wissen dass die dinge je irgendein ende haben wenn du es ihnen nicht selbst bereitest denkt es sich immer so weiter ins endlos ins blaue vom himmel …«, spricht Barbara Köhler. Selbstverständlich hat sich die sprachliche Textur ihrer Gesänge 2007 zu Andrea Wolfensbergers Videobildern gesellt. Köhlers »Gesänge« waren mehrheitlich verfasst, als die Autorin das Ursprungsvideo von Andrea Wolfensbergers mehrteiliger Videoinstallation sah und eine gegenseitige künstlerische Bezugnahme einsetzte. Die Zusammenführung von Bewegtbild, Text und Tonspur mündete in die No One’s Box, einer limitierten Edition mit Buch, Movies und schriftlichen Kommentaren beider Autorinnen. Der innige Dialog gibt beiden Teilen etwas mit: Dem Bild jenen inneren Monolog, der die Welle zur Trägerin einer ungesicherten Existenz umdeutet. Und der Sprache einen Hintergrund, der die subjektive, insistierende, erwägende Nachdenklichkeit gleichzeitig in der Weite des Meeres entlässt und an einen konkreten Ort führt: zum Blick der Künstlerin, die ihrerseits den Boden unter den Füßen aufgegeben hat.
Selbst im Wasser schwimmend und dem Auf und Ab der Wellen ausgesetzt, sieht Wolfensberger ein Schiff vor der ägäischen Küste auf- und absteigen (aus: Niemands Frau. Gesänge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2007, Kap. 09, »Dead Man’s Chess«, S. 32). Der anhaltende Aufbruch ist Thema in dieser co-autorschaftlichen Verschränkung von Bild und Sprache; das Bestehen unter Vielen und Vielem, das Fortkommen, die Beweggründe eines »ichs« und dessen gefährdeter Ort.
»…
ist es ist nicht das schiff das untergeht es
es ist es ist nicht das schiff das untergeht
untergeht es ist es ist nicht das schiff das
nicht das schiff das untergeht es ist es ist
ist nicht das schiff das untergeht es ist es
es ist nicht das schiff das untergeht es ist
…«
(aus: Niemands Frau, Kap. 16, »Leukothea: White Outs«, S. 57).
Eindringlich, atemlos und damit offen lassend, ob ein Satz dem Überleben oder dem Untergang Vorschub leistet, lotsen Köhlers Sprache und Stimme durch acht Variationen von ein und demselben Bewegtbild, das Wolfensberger eingefangen hatte, um es dann mit der Tonspur zu synchronisieren.
Das »Ich« in der Mitte
Niemands Frau : Movies bleibt nicht die einzige Arbeit, in der Wolfensberger das isolierte Subjekt zum Ausgangspunkt ihrer ästhetischen Recherche macht. Samuel Becketts berühmtes Einpersonenstück Not I (1972) bildete die Grundlage einer Installation, die nicht mehr ein Bewegtbild als Sinnesraum für Ton und Sprache aufspannt, sondern den Klang selbst in den Raum übergehen lässt. Nur von einem kleinen Spot beleuchtet, war der gespenstische Monolog aus dem Dunkel des Bühnenraums gesprochen, bevor das Zungen-, Zahn- und Lippenstück mit der Schauspielerin Billie Whitelaw für BBC auch als TV-Play aufgezeichnet wurde.
Die digitalen Zeit- und Lautstärke-Diagramme von Whitelaws Performance übertrug Wolfensberger 2009 in dreidimensionale Volumina. Was die Visualisierung als Welle oder Waveform am Bildschirm in die Fläche bannt, übersetzt Andrea Wolfensberger in symmetrische Objekte. Oszillierend zwischen Schmuck, Kreisel und Pendel, geht der aufgeregte Taumel der Sprecherin in Wolfensbergers Installation in eine neue Ordnung über. Jede Silbe ruht in symmetrischer Ebenmäßigkeit, verteilt über den ganzen Ausstellungsraum.
Übersetzung ist die Grundlage dieser haptischen Poesie. Zwischen analog erzeugtem Klang und Techniken der Aufzeichnung und Wiedergabe liegt der Rohbau von Wolfensbergers aktuellem räumlichem Schaffen. Das Digitale legt Gesetzmäßigkeiten frei, um Klang zum Bild und Sprache zum Körper werden zu lassen. Wolfensbergers Objekte formen ein kindliches Lachen, ein gesprochenes Wort oder ein rezitiertes Gedicht zu Wellen um. Was die Künstlerin in zentrifugale Kräfte übersetzt oder wie Räder in den Raum windet, hat immer ein »ich« als Kern, ohne es der Betrachtung preiszugeben: Ingeborg Bachmanns Stimme schlägt mit Schatten Rosen Schatten (2018) das groß dimensionierte Kartonrad: »Unter einem fremden Himmel / Schatten Rosen / Schatten / auf einer fremden Erde / zwischen Rosen und Schatten / in einem fremden Wasser / mein Schatten«, so der Wortlaut des Gedichts. Die Topografie von Wolfensbergers Wellkarton macht sich den Schatten zu eigen und schraubt sich in einer ungestümen, archaischen Bewegung in den Raum.
»Mein Herr und mein Gott …« – das Gebet des Niklaus von Flüe sendet seine Demut wie ein instrumentaler Gong radialförmig aus einer blanken Mitte.
Und jedes Mal fragt die Anatomie des Klangs nach dem schöpferischen Potenzial von Sprache, nach dem Zusammenhang zwischen Wort und Materie, zwischen Welle und Körper, zwischen dem Jetzt und seinem bleibenden Widerhall.
Analoge Annäherung
Die Frage, was die Materie bewegt und wie das Verhältnis zwischen den Dingen rhythmisiert sei, beschäftigte Andrea Wolfensberger schon bevor die Videokamera eigengesetzliche Aufzeichnungen möglich machte. In den 1980er-Jahren entwarf die Künstlerin archaische Objekte aus Fundholz. Brücke, Tisch, Rad, Staffelei muteten an wie Werkzeug oder Mobiliar, deren durch und durch analoger Nutzen vergessen ging, sodass sie sich in ihrem abstrakten Eigensinn behaupten. Rhythmus, Schwung und Neigungen waren von Interesse. Lamellen aus Eisenblech formte Wolfensberger zu Schalen oder Muscheln. Die Materialien sahen aus, als hätten nicht künstlerische Entscheidungen, sondern das Wetter, ein Wellengang, die Bewegung der Luft, eine biomorphe Notwendigkeit ihr Volumen und ihre Oberflächenbeschaffenheit bestimmt. 1989 ruhten Eisenkörper wie die Panzer von Schildkröten auf der Limmat – dass ihre Abstände von der Fibonacci-Folge bestimmt waren, brauchte man nicht zu wissen, aber das progressive Wachstum, die Logik einer Ordnung, die das Organische mit dem Abstrakten verbindet, war diesem Werk früh eingeschrieben.
Bewegung ist hörbar
Es sprudelt, es murmelt, es rauscht, und manchmal scheint das Flusswasser das Räuspern einer menschlichen Stimme auszuformen. Irrläufig wie Quecksilber perlen Luftblasen durch den Raum. Sie halten den Blick auf Distanz zu den Stiefeln, die sich, Schritt um Schritt, gegen den Strom und von der Kamera weg nach vorn bewegen. Kann es sein, dass Ton ein Bild erzeugt? Andrea Wolfensbergers Wassergang (1993) ist von einer Komposition des Schweizer Musikers Ernst Thoma durchdrungen.
Sie ruft ferne Erinnerungen auf, um sie gleich an den Sog des Wassers zu binden. Ein monotones Zirpen umgarnt die schwerelosen Luftpartikel. Ich sehe mich an helle Vogelstimmen erinnert, dann an den perkussiven Tritt von Damenschuhen auf Asphalt, an ferne Baumaschinen kurz und an den metallenen Widerstand nicht geölter Scharniere in einer Volière, die hallt.
Der Wellengang hält viele Deutungen offen, kein Medium zeichnet wirklich scharf, und digitale Manipulationen sind ein Mittel zum Zweck: In der Videoinstallation Hitzewelle (2003) gewinnt das durch tausendfachen Schnitt vibrierende Standbild einer Steinwüste auch im Sound an irritierender Tiefe:
In unterschiedlichen Tonlagen hat die Sopranistin Marianne Schuppe eine mittelalterliche Melodie aufgezeichnet und die Tonspuren zum Cluster verschmolzen. In der erodierten Bergflanke wohnt so ein anonymer Chor, dessen Ruf die unwirtliche Gegend in einen Ort des Gedenkens oder eines permanenten Flehens verwandelt. Mehr denn Ereignisse, sind Andrea Wolfensbergers Videos Zuständen, Energien und Vibrationen auf der Spur. Offenen Auges hat die Künstlerin seit den 1990er-Jahren ein Stück Landschaft, Berg oder Himmel aufgenommen, um deren Textur, Puls und Dynamik zeitlich wie räumlich zu dehnen. Zu zweidimensional – so scheint in der Rückschau über annähernd dreißig Jahre – muss ihr der Bildschirm vorgekommen sein, um den jeweiligen Ausschnitt tonlos und unbearbeitet gelten zu lassen. Eingriffe in die Ablaufgeschwindigkeit oder Rhythmusstörungen nutzte sie, um unser vermeintlich stabiles Weltbild mit einer eigengesetzlichen Dynamik zu unterlaufen.
Einmal nimmt die Künstlerin keinen Ton hinzu und lässt auch den natürlichen Rhythmus der Bilddokumentation gelten: Als sie zu Beginn der 90er-Jahre über der Stadt Rom die Stare kreisen sieht, ist alles schon da, was das Auge fesseln und die Fantasie bewegen kann. Tausende von Vögeln zeichnen Wogen in den Himmel. Sich ausdehnend und verdichtend, zeigt Stare (1995) eine Choreografie von gleich bleibender Geschwindigkeit und einer verlässlichen, wenn auch sich laufend ändernden Ordnung. Jeder Punkt zieht seine eigene Bahn und folgt doch dem geheimnisvollen Schwarmgesetz. Weil Anhaltspunkte fehlen, die den Vogelflug an den Dimensionen von Architektur oder Landschaft vermessen lassen, scheint die Aufzeichnung ebenso mikro- wie makrokosmische Phänomene in sich aufzunehmen.
Der Natur der Dinge geht Andrea Wolfensberger auf den Grund. In den Gesetzmäßigkeiten von Raum und Klang findet sie die Substanz für ihr digitales und analoges Schaffen. Das Übertragen poetischer Äußerungen in die dritte Dimension durchläuft das Digitale und wächst gleichsam zur Naturform aus. Und wo der Puls des Realen schon offen liegt, dient das Video als Filter zur langsamen Beobachtung. Natur ist dabei Welle, Kurve, Sog, Atem, Kreislauf und Erneuerung; Bild hingegen Pixel, Partikel, Halluzination, Fortgang und Verharren.
Über die Künstlerin |
Andrea Wolfensberger (geb. 1961) studierte an der Ecole Supérieure d’Art Visuel in Genf. Sie erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen sowie Artist in Residencies in Paris und Rom. Sie unterrichtet an der Hochschule der Künste Bern. Seit 1986 hatte sie zahlreiche Ausstellungen, vor allem in der Schweiz und in Deutschland, und realisierte Arbeiten im öffentlichen Raum und als Kunst am Bau. Im künstlerischen Diskurs zum Thema Natur bezieht sie mit Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, Video und Installationen eine sehr eigene, stringente Position, die naturwissenschaftliche Abstraktion und erzählerische Poesie vereint. Sie lebt und arbeitet in Waldenburg BL und Zürich. |
Über die Autorin |
Die Kunstwissenschaftlerin Isabel Zürcher (geb. 1970) lebt als freie Autorin, Kritikerin und Redaktorin in Basel und Mulhouse. Sie hat diverse Texte vorgelegt und schreibt regelmässig für tagesjournalistische wie für Fachmedien. Ihre Publikationen und Beiträge, u.a. über Maria Magdalena Z’Graggen (Verlag für moderne Kunst, 2016); Christa Ziegler: Polis. Bilder von Städten (edition fink, 2013); Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen (mit Silvia Henke und Nika Spalinger, transcript, 2012) belegen immer wieder Isabel Zürchers leitendes Interesse an einer adäquaten sprachlichen Antwort auf Prozesse und Werke der zeitgenössischen bildenden Kunst. |
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