In Folge werden zwei Poesiefilme vorgestellt, die ich mit Studenten der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin gedreht habe.
SCHÖNE WEIDE LAND
›Schöneweide‹ heißt der Berliner Stadtbezirk, der sich, am oberen Spreeufer gelegen, zunächst durch wuchernde Industrie der Gründerzeit einen berühmt-berüchtigten Ruf erarbeitete: als bedeutendstes städtisches Fabrikquartier Deutschlands. Mehr als 50 industrielle Produktionsstätten, seit 1914 Hexenkessel der Rüstungsindustrie, Zwangsarbeiterhochburg, 1944 zerbombt von der Roten Armee, Industriedemontage, Wiederaufbau, Volkseigentum, »Schweineöde« statt »Schöneweide«. In den schwelenden sozialistischen Industriebezirk wurde 1951 die Staatliche Schauspielschule verlagert: aus der innerstädtischen Intellektuellenszene in die am Rand gelegene, kulturdumpfe Welt der Werktätigen. Damit sich Arbeiter und Künstler einander annähern. Eine Allianz, die nie stattfand, weil sie in naiver Utopie verharrte. Arbeitersau versus Rampensau. Die Schauspielschule blieb in Schöneweide, wurde Hochschule, ausgebaut, brachte über Jahrzehnte geniale Absolventen aller Theatergattungen hervor. Abermals Zeitenwechsel – nach 1989 ging die Industrie den Bach/die Spree runter und viele Arbeiter nicht mehr zur Arbeit, sondern an die Bierflaschen. Das Hochschulgebäude morschte vor sich hin. Es wurde die Idee Back to the arts! geboren: der Abschied vom Zerfallsbezirk in die hybride theateraffine Hauptstadtmitte. Zentralstandort! Von der Idee bis zur Erfüllung des Umzuges dauerte es etwa zehn Jahre.
Als 2009/2010 der Weggang von Schöneweide offiziell angedacht wurde, beschloß ich mit Schauspielstudenten einen Poesiefilm zum Thema »Arbeiterbezirk – Theater – Abschied« zu drehen. Poesie deshalb, weil sie sich dem rein Dokumentarischen bzw. Authentischen d. h. Kunstlosen verweigert und außergewöhnliche Sichtweisen hervorbringt. Die ausgewählten Verse markieren geistige Standorte deutscher Dichtung von der Klassik bis zur Gegenwart. Das Thema sollte nicht illustriert oder performiert werden, sondern drei Genres – Vers, Filmbild, Musik – miteinander spielen. Spiel hat mit Zufall zu tun, doch darf es diesem nicht aufsitzen, da es sonst beliebig wird und in privaten Posen verendet. Also hat der Film nicht nur eine Idee, sondern eine Dramaturgie. So ist jede Sequenz bedingt entschlüsselbar, und alles hat mit allem zu tun. Das Problem: Gedichte verweigern sich dem darstellerischen Spiel, da sie in der Regel weder dramatisch noch gestisch sind. Bild und Musik stehen über dem Text und werden stärker als dieser wahrgenommen. Das Ideal der Feinarbeit besteht darin, den Text in der sichtbaren Oberfläche nicht untergehen zu lassen, sondern ihm das Bild als Verstärker zu geben. Musik ist Zugabe. Gegenseitiges Hinterfragen der Mittel, Reichtum der Symbole, das Fugale der Assoziationen – es verblüfft den Zuschauer in einer anderen Form von SCHAU-SPIEL.
GEISTERSTUNDE
Der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin-Mitte besitzt eine hohe Prominentendichte von Dichtern, Theaterleuten, Künstlern, Philosophen, Politikern, Baumeistern und Erfindern. 1762 angelegt und mehrfach erweitert, grenzt er heute zum einen an das Haus, in dem Bertolt Brecht und Helene Weigel in DDR-Zeiten gewohnt haben, zum anderen ans Klinikum der Charité. Zwischen Gräberprunk und -kunst kann der Besucher großer und/oder grauenvoller Geschichte auf die Spuren kommen, sich in ihnen verlieren oder neu finden. Man stelle sich vor: die Geister mehr oder weniger versunkener Epochen korrespondieren noch heute miteinander durchs irdisch-unterirdische Wurzelgeflecht: Kommunikationsstränge spannender, sonderbarer Art.
In unserem Film agieren Vergangenheit und Gegenwart miteinander, das heißt: junge Menschen verhalten sich mittels Versmaterial spielerisch zu dem, was vor ihnen stattfand, und was die Köpfe durch alle Zeiten hin beschäftigt. Das Hauptthema: Vergänglichkeit und Unsterblichkeit / Asche und Feuer. Des Weiteren: Dichtung, die in ihrer kompakten Sprache Denk- und Bildräume jenseits faden Gedenkens und zeitgeschichtlicher Lektionen evoziert. Die Jungen befragen die toten Dichter sowohl nach deren Poetik, als auch nach Historie. Wir sehen die Schwierigkeit einer Annäherung, doch auch deren Unverfangenheit. Das Brüchige spiegelt sich im ›Unfertigen‹ des Denkens, Sprechens, Handelns sowie der Kameraführung, die bewußt auf Improvisatorisches setzt. Symbolisches wie der Auftritt von (schweigenden) Totengräbern sowie des Posaunisten Friedrich Schenker (der ein Jahr nach Drehbeginn des Filmes starb und ebenfalls auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt wurde), soll durch verhaltene Ironie gleichsam Abstand zu lähmender Trauer und steifer Pietät bewahren. Das Werk der großen Geister jedoch lebt weiter, indem es stets in neuen Sichten geehrt wird. Ein Friedhof allein macht noch keinen Poesiefilm, dachten wir und haben die Stadt mit einbezogen: Berlin in seinem schillernden Zerfall und seiner ewigen Wiedergeburt. Genauer: der Teil Berlins, der das Friedrichstadtareal ausmacht, und in dem die Widersprüche der Zeiten am deutlichsten hervortreten.
INFOS ZU DEN FILMEN
SCHÖNE WEIDE LAND
Konzeption u. Regie: Kerstin Hensel
D 2009, 50 min
Kamera, Schnitt: Dennis Pauls
Mitwirkende: Jasna Bauer, Moritz Gottwald, Christian Löber, Bernardo Arias Porras, Runa Schaefer, Florian Steffens, Lea Willkowsky (Studenten der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin)
Drehorte: Schöneweide, Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«
Texte von: Georg Maurer, Bert Papenfuß, Heinz Erhardt, Kito Lorenc, Sarah Kirsch, Uwe Grüning, Gebrüder Grimm, Ernst Jandl, Kerstin Hensel, Bernd Wagner, Friedrich Hölderlin, Karl Mickel, Volker Braun, Günter Kunert, Heiner Müller, Peter Rühmkorf, R. M. Rilke
GEISTERSTUNDE
Konzeption u. Regie: Kerstin Hensel
D 2012, 50 min
Kamera, Schnitt: Dennis Pauls
Mitwirkende: Frida Hamann, Julian Härtner, Maximilian Meyer-Bretschneider, Felix Lüke, Jennifer Krannich, Lucie Thiede, Alexandra Martini, Mathias Mosbach (Studenten der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«), Friedrich Schenker (Pos.), Benjamin und Dshamilja Hensel (als Gäste)
Drehorte: Dorotheenstädtischer Friedhof, Brecht-Haus, Berlin-Friedrichstadt
Texte von: George Tabori, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Johannes R. Becher, Wolfgang Hilbig, Anna Seghers, Karl Mickel, Adolf Endler, Thomas Brasch
ZUR AUTORIN
![]() © Susanne Schleyer Kerstin Hensel, 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren, studierte am Institut für Literatur in Leipzig ; im Anschluss arbeitete sie als dramaturgische Mitarbeiterin am Leipziger Theater und ist seit 1988 freiberuflich als Schriftstellerin tätig. Seit 2001 nimmt sie eine Professur für Deutsche Verssprache und Versgeschichte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin wahr. Seit 2013 ist sie Mitglied und Vizedirektorin der Abteilung Literatur der Akademie der Künste Berlin. Sie war Stipendiatin der Villa Massimo und unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Kerstin Hensel wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den Leonce-und-Lena- und den Ida-Dehmel-Preis. Kontakt: www.kerstin-hensel.de |