Film des Monats

Gegenwart

Film des Monats August 2018 •

Die einzige Möglichkeit, dem Folgenden zu entgehen, wäre, die Augen zu schließen und die Ohren zuzuhalten. Ansonsten werde ich mich darauf einlassen müssen. 

Die Situation ist diese: Ich sitze in einem Kino. Das Licht ist gedämpft, die Leinwand groß, das Smartphone ausgeschaltet. Die nächste Stunde steht nichts an, außer der Performance von Jörg Piringer beizuwohnen.

Jörg Piringer befindet sich links neben der Leinwand. Vor ihm ein Laptop. Von diesem aus startet er seine Filme; größtenteils sind auf weißem Grund Buchstaben in verschiedenen Kombinationen zu sehen. Nicht selten entdeckt mein Denken in diesen Kombinationen einen Sinn. Dann werden aus den Buchstaben Wörter und wenn ich verstehe, in welcher Beziehung die Wörter zueinanderstehen und wie die Art und Weise, durch sie entstanden, etwas über sie aussagen, dann habe ich eine Erkenntnis. Manchmal sind es einfach nur Worte, dann erfreue ich mich an der Ästhetik.

Ein Beispiel für den Sinn.

Jörg Piringer variiert die Buchstaben A, T, G und C. Allen geht auf: Er schreibt die vier organischen Basen des Lebens, schreibt Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin als Sprache auf.

Ein weiteres Beispiel für die Performance.

In abcdefghijklmnopqrstuvwxyz spricht er einen Buchstaben (z.B. s) ins Mikrofon, loopt den Ton, der sich von nun an wie ein gemeiner Wurm ins Unendliche dehnt. Zum Geräusch verändern sich die Buchstaben, die Typen sind wie Zellen, sich vereinend, teilend, Neues ergebend, vergehend, ein unaufhörlicher Vorgang, voller Störungen und Konfusionen. Die Sprache als ein chaotischer, mitunter sinnergebender Vorgang, ein Organismus, so wie das Publikum zumindest in diesem Vorgang des Beschauens von abcdefghijklmnopqrstuvwxyz ebenfalls einer ist.

Die Situation könnte auch eine andere sein. Ich könnte zuhause sein, nehmen wir eine Wohnung mit Wohnzimmer an, ein Stuhl darin und auf diesem Stuhl sitze ich vor meinem Laptop, weil ich erfahren habe, dass Jörg Piringer eine Webseite eingerichtet hat, auf der einige seiner Videos zu finden sind. Auf dieser Seite werde ich in die Sektion mit den Videos geführt; coded poetry | type and repeat | unicode | software for the manipulation | interactive soundpoems | spoken sampless steht dort.

Hier gibt es keinen Performer, der festlegt, welches Video wann gezeigt wird und damit Bezug aufeinander nehmen kann. Ich muss entscheiden und weil entscheiden auch eine Anstrengung ist und ich Anstrengungen gern vermeide, klicke ich ein wenig wahllos und damit auf eine Datei, die per Soundcloud gestreamt wird.

allgemein erklar menschenrecht läuft ab. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird von Komponenten – Artikeln, Präpositionen, Konjunktionen – befreit und die restlichen Wörter werden auf ihre Stämme reduziert. Das klingt dann so: »da anerkenn angebor wurd gleich unverausser recht mitglied gemeinschaft mensch grundlag freitheit gerechtig fried welt…«

Draußen ist Tag. Die Sonne scheint, Licht fällt durchs Fenster und auf meinen Laptop. Das Licht beeinträchtigt mein Sehen. Ich muss die Neigung des Displays nachjustieren. Auf dem Tisch vibriert mein Smartphone. Eine WhatsApp-Nachricht! Ein Mensch nimmt Kontakt mit mir auf. Es genügt, ihm ein Emoji zu senden.

Während dieses Vorgangs – Vibration hören, Smartphone aktivieren, Nachricht lesen, Überlegen einer Antwort, Tippen einer Antwort – bin ich abgelenkt. Mir entgehen Buchstaben, Wörter. Mir entgeht Sinn. Ich verstehe das Video nicht oder nur zu Teilen. Ich verstehe nicht, dass das Video die Sprachverarbeitungsalgorithmen von Internetsuchmaschinen imitiert und fragt, wie viel Verstehen bei einer solchen Datenreduktion noch möglich ist.

Ich ahne, dass ich nicht verstehe, und bin unzufrieden. Schon etwas ungeduldiger klicke ich auf ein Video. Es zeigt Barack Obama vor einem Rednerpult. Er hält eine Rede. Seine Rede ist in Worte unterteilt und jedes Wort wird gemäß seiner Position im Alphabet gezeigt.

In diesem Moment sagt der amtierende amerikanische Präsident etwas sehr Dummes und deshalb Gefährliches. Beyoncé hat gerade ein neues Video hochgeladen. Ein alter Schulfreund erzählt auf Facebook stolz von seiner bevorstehenden Scheidung. Netflix kündigt die Verfilmung meines drittliebsten Science-Fiction-Romans an. Mir fällt ein, dass ich schon immer einmal nachschauen wollte, warum Krähen sich mit toten Krähen paaren.

Es gibt tausend andere Sachen, die zeitgleich zum Schauen der Jörg-Piringer-Kunst locken und weil ich nicht gefangen im Kino bin, gebannt von einer Performance, die immer nur jetzt und einmal stattfinden kann und ich nichts spüre außer den Pixelfehlern auf meinem Display, ist das Schauen der Videos anders als das Schauen der Performance. Nicht zwangsläufig besser, weil das Beyoncé-Video auch sehr interessant ist.

Aber so entgeht mir, dass Jörg-Piringer-Videos eigentlich keine Menschen bräuchten. Zumindest beim Erstellen nicht. Der passende Code, die geschickt eingesetzte Programmiersprache, würde ein Video allein anhand eines Algorithmus entstehen lassen.

Dieses Video würde zwei Dinge erzählen: Einmal etwas über unsere Sprache, wie Buchstaben zu Wörtern zu Sinn werden. Und vielmehr noch, wie die Programmiersprache Sprache erst formt und von welcher Irreführung Übersetzungen sind: Der Mensch übersetzt einen Sachverhalt in eine Form, die Maschinen verstehen können, die Maschine führt eine Arbeit entsprechend der menschlichen Vorgabe aus und übersetzt so zurück, dass der Mensch wieder verstehen kann. Da sich in jeder Übersetzung der Parasit einnistet und verändert und irritiert, sind die Ergebnisse Ergebnisse dieser Irritation.

Mehr noch: Nicht nur die Maschine folgt einem Algorithmus. Auch der Mensch folgt ihm. Dieser Algorithmus setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen; persönlich-biographischen, biologischen, gesellschaftlichen, politischen, emotionalen.

Ein Beispiel.

In der Performance schreibt Jörg Piringer einen Satz wie »Die Bauarbeiterin trinkt Wasser«. Er übersetzt den Satz ins Türkische. Im Türkischen wird das grammatische Geschlecht nicht differenziert. Um das natürliche Geschlecht zu versprachlichen, greift das Türkische auf verschiedene Wortbildungsstrategien zurück. Jörg Piringer übersetzt den Satz zurück ins Deutsche. Nun hat die Person darin das Geschlecht gewechselt. »Der Bauarbeiter trinkt Wasser« steht da. Aus »Bauarbeiterin« wurde »Bauarbeiter«.

Nicht die Maschine ist verantwortlich dafür. Sondern der Mensch, der sie programmierte. Der annahm, ein Mensch, der baut, müsse männlich sein. Der ein Bild vor Augen hatte. In diesem Menschen, diesem Programmierer ohne böse Absichten lief ein gesellschaftlicher, ein geschlechtlicher Algorithmus ab. Nicht die Maschine ist überführt, sondern die Annahme des Menschen. Das generische Maskulinum ist eine satanische Illusion. Das Geschlecht ist an Sprache gebunden. Die Maschine an den Menschen.

Die Stimme eines Menschen, Jörg Piringer in diesem Fall, ist zu hören. Er ordnet ein, erklärt manchmal, fordert zum Mitmachen auf, bittet um Worte, die er vor aller Augen zerlegen kann. Jeder in diesem Kino ist allein und doch sind WIR das Publikum. Und wir sind jetzt. Niemals wieder wird es dieses WIR geben, wird jeder dieser Menschen gemeinsam an einem Ort sein.

Das verbindet.

Einmal zeigt Jörg Piringer GEGENWART.

Auf der großen Leinwand steht das Wort jetzt. Einen Sekundenbruchteil wird es eingeblendet, einen Sekundenbruchteil aus, einen Wimpernschlag lang steht es da. Die Gegenwart dauert drei Sekunden. Drei Sekunden, weil das Gehirn drei Sekunden benötigt, um Informationen zu Bewußtsein und Erkenntnis zu verarbeiten, und dabei ein periodisches System erfindet, um die Wankelmütigkeit der Wahrnehmung zu zähmen. Zeittote Zonen entstehen, zeittot so wie jetzt.

Jörg Piringer zeigt uns die Gegenwart.

Sie ist immer da und immer gibt es einen kurzen Moment, in dem ich ahne, dass sie gerade ist, und einen schmerzlichen Augenblick, in dem ich verstehe, dass sie geht.

Eine Minute brauche ich, um zu verstehen.

Eine weitere Minute genieße ich es, die Gegenwart zu verstehen.

In der dritten Minute werde ich wütend. Wütend auf Jörg Piringer, weil er mir die Gegenwart nimmt. Er ist ein Hund, denn er stiehlt mir das Kostbare, er stiehlt mir Zeit.

In der vierten Minute kommt der Frieden.

Die drei Sekunden Gegenwart laufen etwa drei Minuten. Drei Minuten. Ich finde, es könnte eine Stunde, ach was, einen Tag dauern.

Eine Woche lang GEGENWART.

Als wir später vor dem Kino stehen, frage ich Jörg Piringer, ob er sich vorstellen könne, GEGENWART eine Stunde zu zeigen. Das könne er, sagt er, eine Stunde, warum nicht. Aber es wäre körperlich sehr anstrengend für ihn, das durchzuhalten, weil die Menschen, sie würden reagieren. Sie würden GEGENWART so lange nicht aushalten.

Er sagt das. In etwa so. Seine Laute sind Worte und die muss ich hören und aus den Worten eine Information ziehen und diese als Erinnerung in meinem Kopf ablegen und einmal, spätestens, wenn ich diese Zeilen schreibe, wieder abrufen und dann sitzt da der Parasit und irritiert und verfälscht, ist selbst ein gemeiner Algorithmus.

Doch, so ungefähr wird es gewesen sein.

Mehr zu Jörg Piringer
http://joerg.piringer.net/
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