Film des Monats Mai 2017 •
Sei nicht so wie die Anderen, dann kannst du überleben – von Minute zu Minute! Charles Bukowskis Lyrik ist von einfachen Aussagen geprägt. Der in Kolumbien entstandene Poesiefilm »The Minute« (2015) von Adrián Suárez legt ihren popliterarischen Unterhaltungscharakter frei und rettet Bukowskis Text durch Ironie und inszenierte Oberflächlichkeit vor dem Trivialitätsverdacht.
Wenige Poetryfilme der letzten Jahre haben sich mit soviel ästhetischer Energie ins Gedächtnis gebrannt wie The Minute von Adrián Suárez. Ein einprägsamer Film aus einem Land, das nicht gerade zu den Zentren des zeitgenössischen Poesiefilms gehört. In Lateinamerika entstehen die meisten Filme in Argentinien, Mexiko oder Brasilien. Der kolumbianische Poesiefilm hingegen steckt erst in den Anfängen. Da ist es umso erfreulicher, dass mit dem seit vielen Jahren in Bogotá lebenden Spanier Adrián Suárez nun ein Filmemacher hervorgetreten ist, der sich des Genres gleich mit großer Professionalität angenommen hat.
Suárez wurde 1983 in Madrid geboren und stammt aus einer künstlerischen Familie. Seine Mutter ist Musikerin, sein Vater bildender Künstler. Normalerweise arbeitet er unter dem Markennamen »Lausiv« als Werbe- und Kampagnenfilmer für große Unternehmen und Institutionen. Seine berufliche Karriere begann er zunächst in Spanien als Art Director für verschiedene Werbeagenturen. Von Kolumbien aus arbeitet er inzwischen für große Firmen wie Alfa Romeo, Lancia, Toshiba, Heineken oder IKEA. Einen seiner letzten Werbeclips drehte er im Auftrag der Firma Reebok. In diesem Spot läuft ein Mann in Mexiko City schneller als die Metro. Suárez’ Leidenschaft gilt jedoch nicht nur dem plakativen Werbefilm, sondern ebenso dem dokumentarischen Kurzfilm, der Fotoreportage – und neuerdings dem künstlerischen Poesiefilm.
Suárez ist es gelungen, mit bloß zwei Filmen eine eigene Bildsprache zu entwickeln, die sofort wiedererkannt wird; vielleicht, weil sich seine Filme neben einer besonders dominanten Bildrhetorik durch Humor und Witz aus der Masse der in der Regel sehr ernsthaften filmischen Adaptionen von Poesie hervorheben.
The Minute spielt mit einem Gedicht des in Andernach geborenen Kultautors Charles Bukowski (1920–1994). Die nur auszugsweise in den Film übernommene Vorlage stammt aus dem Nachlass Bukowskis und wurde 2008 in dem Band The People Look Like Flowers At Last: New Poems veröffentlicht. Sein Bukowski-Film hat noch einen Zwillingsbruder: In der gleichen Erzählart adaptierte Suárez ebenfalls das Gedicht Instrucciones para cantar des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar (1914–1984). Beide Filme dauern etwa eine Minute. Im Falle des Bukowski-Films entspricht dies Titel und Inhalt des Gedichts. Die Länge ist zugleich Ausdruck der Vorliebe des Regisseurs für sehr kurze Filmformate, die es erlauben, den Zuschauer temporeich zu unterhalten und visuell zu überraschen. Bei der Adaption des Gedichts bedient sich Suárez vor allem der Farben, der ausgeklügelten Komposition von Dingen und einer schnellen, eindringlichen Musik.
Der einfarbige, türkise Hintergrund verleiht den Szenen einen gestalterischen Rahmen. Insgesamt signalisiert die Farbigkeit popkulturelle Oberflächlichkeit. Adrián Suárez spielt hier mit der Greenscreen-Technik: Während die Köpfe unsichtbar bleiben – die Körpergesten werden dadurch entpersonalisiert und selbst zum Teil der Dingwelt, in der sie sich bewegen –, sehen wir Hände und Arme in Interaktion mit den verschiedensten Objekten, die den Text mit ihren Gesten kommentieren.
Der Film erzählt in einer direkten, einfachen und klaren Bildsprache, die Verklausulierungen und Vagheiten vermeidet und zum Nachdenken anregen will. Dabei sind spezifisch bildrhetorische Strategien am Werk. Bei der Illustrierung einzelner Sätze werden z. B. rhetorische Figuren wie die Metonymie (Teil für das Ganze) oder die Hyperbel (Übertreibung) eingesetzt. Die überraschende Kombination von unterschiedlichen Gegenständen, die man nicht erwartet, erinnert darüber hinaus an die surrealistische Kunst und Lyrik oder an Federico García Lorcas (1898–1936) berühmte Poesiedefinition von 1933, wonach die Poesie eine Vereinigung von zwei Wörtern sei, von denen man nie gedacht hätte, dass sie zusammenkommen könnten, die aber zusammen etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles (»un misterio«) bilden.
Zur Eingängigkeit des Films trägt schließlich die Musik bei. Mit dem Track Able Mable aus der Comedy/Quirky-Compilation des britisch-US-amerikanischen Komponistenduos Jeff Meegan (aus Chicago) und David Tobin (aus London) hat sich Suárez ein besonders bizarres und etwas kauziges Stück zweier Komponisten ausgesucht, die schon seit vielen Jahren zusammen an erfolgreichen Projekten arbeiten und einen Namen in der Musikszene haben. Diese Musik verleiht dem Film einen ausgeprägten Entertainment-Charakter.
Doch der Schein leichter, oberflächlicher Unterhaltung trügt. Der Film geht das im Gedicht behandelte Thema Zeit gleich auf mehreren Ebenen an. Mit dem anfänglichen Räuspern der Voice-over-Stimme beim Einschalten des Aufnahmegeräts wird ein nostalgisches Retrogefühl eingeführt, das durch die Auswahl der Objekte weiter verstärkt wird. Und auch durch die zahlreichen Überraschungseffekte, die in die 28 Szenen und 42 Einstellungen liebevoll eingearbeitet sind, stellt der Film das scheinbar lineare Verstreichen der Zeit visuell immer wieder in Frage.
Mancher Leser und Liebhaber Bukowskis mag dessen Lyrik vielleicht in diesem Film nicht sofort wiedererkennen. Das Verrauchte und Verruchte, Schamlose und Schmutzige, die latente und offene Gewalttätigkeit von Bukowskis Texten scheinen verschwunden. Dagegen konzentriert sich The Minute auf die popkulturelle Dimension dieser Literatur. Die grellen, einfachen und starken Botschaften werden durch die Filmästhetik als solche sichtbar gemacht. Dabei schwingt eine gehörige Portion Ironie mit: Bukowskis oftmals sehr schlichten Botschaften erreichen uns heute noch, seine Lyrik ist vital und lebt – doch besitzt ihr Genuss den nostalgischen Charme einer sehr leicht zu verklärenden Vergangenheit.
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