Film des Monats Oktober 2018 •
In einem Land, in dem beinahe jede Banknote einen Dichter zeigt, wird er auf der 500-Som-Note geehrt: der kirgisische Dichter und Epen-Sänger Sajakbaj Karalajev. Der kirgisische Regisseur Bolotbek Šamšijev widmete diesem Barden im Jahr 1965 sein Regie-Debüt – ein faszinierend montierter, dokumentarischer Poesiefilm.
Der Manasči ist eine Dokumentation, die mit den Mitteln des Poesiefilms arbeitet, ja, deren strukturelle Basis der Poesiefilm ist. Daraus lässt sich allerhand lernen: nicht nur über einen im allgemeinen Bewusstsein stark unterrepräsentierten Teil der Welt, sondern auch über den gekonnten Einsatz filmischer Verfahren im Poesiefilm.
Grundlage des Films ist die Rezitation, die Performance des Barden, des Manasči Sajakbaj Karalajev. Der Film zeichnet seine Performance nach, indem im Schuss-Gegenschuss-Verfahren abwechselnd Karalajev und das Publikum ins Bild kommen. Die Sequenzen werden unterbrochen von atmosphärischen Landschaftsaufnahmen und kurzen, erläuternden Passagen, die aus historischen Fotografien und Illustrationen montiert sind. Auffällig ist außerdem eine im Film solitär stehende, animierte Realfilmsequenz (7:02-7:22 min), die gleichzeitig einen wichtigen Schnitt innerhalb der Handlung des Epos markiert: den Tod des Helden Manas. Um den Verlauf eines Tages darzustellen und damit die Dauer einer Performance zu verdeutlichen, hat der Regisseur Aufnahmen verschiedener Rezitationen verwendet. Auch hier greift Šamšijev zur Technik der Montage: Die Stimmung der Tageszeiten korrespondiert mit der Stimmung der thematisierten Passagen des Epos. Nacht und Trauer stehen beieinander.
Der Regisseur Bolotbek Šamšijev wurde am 12. Januar 1941 in Frunze (heute Bischkek) geboren und absolvierte bis 1959 eine Ausbildung als Toningenieur im »Frunzer Studio für künstlerische und historisch-dokumentarische Filme KYRGYZFILM«, ehe er ein Regiestudium im Fachbereich Dokumentarfilm am »Allrussischen staatlichen Institut für Kinematographie namens S. A. Gerasimov« in Moskau bei Aleksandr Zguridi begann. Sein Lehrer war auch künstlerischer Leiter des Films Der Manasči. In späteren Jahren wurde Šamšijev mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. 1975 erhielt er den Preis des »Volkskünstlers der Kirgisischen SSR«, 1991 wurde er zum »Volkskünstler der UdSSR« gewählt.
Bei der Umsetzung seines Regiedebüts stand Bolotbek Šamšijev vor der Aufgabe, das in kirgisischer Sprache überlieferte und rezitierte Epos Manas* für das gesamt-sovjetische Publikum verständlich zu machen. Über Kirgistan wusste man in der Regel wenig und verstand zum größten Teil kein Kirgisisch; wohl aber Russisch, die lingua franca der Sovjetunion. Auf die naheliegende Lösung, Untertitel zu verwenden, verzichtet der Film vollständig.
Stattdessen bedient er sich einer stark rhythmisierten Montage von Film, Standbild, Originalton, Musik und einer Erzählerstimme, die sowohl übersetzte Passagen des Epos als auch Erläuterungen vorträgt. Dabei überschneiden sich Rezitation und Erzählerstimme teilweise. Diese Technik des rhythmischen Wechsels zwischen Originalton und Übersetzerstimme hat Šamšijev in seinem späteren Spielfilm aus dem Jahr 1971 Alije Maki Issyk-Kulja (Purpurner Mohn vom Issyk-Kul) noch perfektioniert. Die Übersetzerstimme wird dort tatsächlich Teil des Films.
In Der Manasči kommt alles auf den Rhythmus an. Dies wird bereits zu Beginn des Films deutlich. Im Vorspann ist jedem Credit ein Standbild zugewiesen. Jedes Standbild wird nach vier Sekunden, nach zwei Versen, durch ein weiteres ersetzt. Diesem Rhythmus folgt der Film in abgeschwächter Form beinahe bis zum Ende, und er folgt damit zugleich dem Rhythmus der Rezitation. So entsteht ein Fluss, in dem Geschichte, Landschaft und kulturelles Andenken, Hell und Dunkel, Freude und Leid, Geburt und Tod nicht nebeneinander stehen, sondern miteinander verwoben und verschnitten werden.
Der Manasči ist gewiss kein nüchterner, analytischer Dokumentarfilm, sondern vielmehr der ambitionierte Versuch, mit modernen Mitteln die Geschichte eines jahrhundertealten Epos und seiner Sänger fortzuschreiben und in die Gegenwart zu holen. Eine angemessenere Würdigung eines Barden ist wohl kaum denkbar.
Anmerkung:
* Die Klärung der Frage, ob es sich bei Manas tatsächlich um eine genuin ›kirgisische‹ Schöpfung handelt, steht ebenso aus, wie eine zuverlässige Datierung. In Fassungen des neunzehnten Jahrhunderts soll der titelgebende Held teils nicht als »Kyrgyz«, wohl aber als »Nogajer« bezeichnet worden sein. Dieser Umstand passt zur Auffassung einiger Forscher, das Epos sei keinesfalls über 1.000 Jahre alt, sondern eine Schöpfung aus dem achtzehnten Jahrhundert. Denn es waren die Nogajer, die sich im siebzehnten Jahrhundert – ebenso wie der Batyr Manas im gleichnamigen Epos – Kämpfe mit Oiraten, Kipčaken und Uiguren lieferten. Strittig ist ebenfalls die auch in Šamšijevs Film vertretene These, es handele sich um »das längste Epos der Welt«. Denn dies ist allein eine Frage der Zählweise. Beschränkt sich die Einschätzung auf die Zahl der Verse – im Durchschnitt der verschiedenen überlieferten Versionen 500.000, 600.000 in der von Sajakbaj Karalajev überlieferten Fassung –, ist das Epos Manas tatsächlich das weltweit längste der überlieferten Epen. Fokussiert sich die Bestimmung jedoch auf die Menge des Wortmaterials, dürfen das indische Epos Mahabharata und das tibetisch-mongolische Epos Geser als »länger« bezeichnet werden. (Über die Aussagekraft eines solchen Vergleichs möchte ich mir an dieser Stelle keine Äußerung erlauben.)
Informationen zum Film |
UdSSR 1965, 19:18 min Buch und Regie: Bolotbek Šamšijev Kamera: A. Petrov, N. Borbijev Wissenschaftliche Beratung: A. A. Salijev Text: K. Omurkulov Musik: M. A. Marutajev Ton: V. Charaamenko, S. Kacelenbogen Ausführender Produzent: A. Ibraimov Künstlerische Leitung: A. M. Zkuridi Preise: 2. Preis des Allunions Filmfestival Kiev in der Kategorie wissenschaftlich-populäre Filme 1966; 1. Preis der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen 1966. |
Über den Autor |
![]() Foto: Thomas Holbach Moritz Gause wurde 1986 in Berlin geboren und wuchs dort, in Brandenburg und in Thüringen auf. Er studierte in Jena Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. In den Jahren 2009 bis 2015 verantwortete er Literaturprojekte, Lesereihen, literarische Werkstätten, Ausstellungen und Interventionen in Thüringen. Nach zwei Jahren in Bischkek, Kirgistan, lebt Gause heute in Berlin. Im März 2018 erschien sein Debütband Meditationen hinterm Supermarkt in der edition AZUR. |