Essay, Magazin

bemerkungen zu meinen schriftfilmen

in mehr als einem halben jahrhundert künstlerischer tätigkeit habe ich vielfältige erscheinungsformen visueller poesie entwickelt. von schreibmaschinenideogrammen und typocollagen über »totale bücher« führt ein direkter weg zu meinen ersten absoluten schriftfilmen.


BEMERKUNGEN ZU MEINEN »DREI KINEMATOGRAFISCHEN TEXTEN«

in mehr als einem halben jahrhundert künstlerischer tätigkeit habe ich vielfältige erscheinungsformen visueller poesie entwickelt und in ausstellungen und publikationen exemplarisch dokumentiert (siehe mein 1996 im haymon-verlag innsbruck erschienenes kunstbuch visuelle poesie und den band 2.1 meiner gesammelten werke im verlag matthes & seitz berlin). von schreibmaschinenideogrammen und typocollagen über »totale bücher« wie rhythmus r (1958) und mann und frau (1962) führt ein direkter weg zu meinen ersten absoluten schriftfilmen, den drei kinematografischen texten – die ersten notizen dazu reichen allerdings schon in die fünfziger jahre zurück, als sich für eine realisation weder ein produzent noch ein sender finden liess. das projekt war damals und noch geraume zeit später reine utopie, auch wenn die partitur schon 1964 in einer peniblen reinschrift vorlag – leider ging sie in einer deutschen fernsehanstalt verloren. realisieren konnte ich die drei kinematografischen texte aufgrund einer noch vorhandenen rohschrift (sie erschien als buch in einer nummerierten auflage 1996 im freibord verlag wien) erst 1970 im sender freies berlin. der erste dieser kurzen filme zeigt variierte konstellationen mehrerer buchstaben, der zweite verwendet ein stark reduziertes wortmaterial, wie das für konkrete poesie charakteristisch ist, während der dritte die sprechstimme, den auditiven bereich der sprache, kontrapunktartig hinzufügt.

die schrift hat in der visuellen poesie nicht nur eine rein vermittelnde und konservierende funktion, sie wird vielmehr als artefakt selbst zur botschaft, zum autonomen anschauungsobjekt: ihr sinnliches material – bedeutungsbesetzte striche und punkte – gewinnt durch differenzierung der buchstabenformate und -formen sowie, unter aufhebung der leselinearität, ihrer anordnung auf der fläche eigenständigen ausdruckscharakter. als vorläufer der visuellen poesie können vor allem die figurativen gedichte der barockdichtung und die »calligrammes« von apollinaire gelten, aber auch bildhafte spielformen volkstümlicher rätselkreationen. die visuelle konkrete poesie unterscheidet sich demgegenüber durch strikte vermeidung des illustrativen, der tautologie. sie will den genannten gegenstand, das angesprochene motiv nicht figürlich wiederholend abbilden, sie setzt vielmehr wortinhalte und grafische elemente in einsichtiger weise so zueinander in beziehung, dass eine neue, über den schon gegebenen wortsinn hinausgehende bedeutung entsteht. ein einfaches beispiel: das wort »leib« wird in jeweils dreimaliger repetition untereinander zu einem quadratischen block gesetzt, wobei das vorletzte »leib« unmittebar an das letzte der untersten reihe rückt; aus dem zusammenschluss entsteht das neue wort »bleib«, was eben nur visuell erfahrbar ist.

entwickelt man unter solch elementaren voraussetzungen texte, die sich über mehrere seiten erstrecken, liegt es nahe, auch das moment des umblätterns zu thematisieren, in die konzeption des textes einzubeziehen, ihm also aussagequalität zuzubilligen, statt es – wie üblich – dem belieben eines genormten satzspiegels zu überlassen. beim umblättern kommt die bewegung, der wechsel, ins spiel, und damit gelangt man schon zu einem so typisch filmischen gestaltungsmittel wie dem schnitt. er bietet die interessante möglichkeit, das lesetempo zu bestimmen, es zu beschleunigen oder zu verlangsamen, abrupte oder fliessende übergänge zu schaffen. es ist psychologisch interessant, dass schon der buchleser bei einem blatt mit äusserst reduzierter textierung unwillkürlich länger verweilt, das einzelne wort nachwirken lässt, während er bei dichten textpassagen merklich schneller liest und blockartige worthäufungen oft nur mit einem blick überfliegt. im filmischen verlauf kann das lesetempo gezielt gesteuert, als exakt rhythmisches ereignis berücksichtigt werden. der film und speziell der schriftfilm erschliesst so ein kompositionell erweiterndes, die rezeption eines textes erheblich intensivierendes spannungspotential. der film komprimiert den buchtext und versetzt ihn zugleich in permanente bewegung, buchstaben und wörter erscheinen in mannigfachen metamorphosen: wachsen an, verkleinern sich, verblassen und verschwinden, tauchen in formal verwandten gestalten überraschend wieder auf, verschmelzen miteinander, verändern ihre positionen und damit ihr gewicht. diese neuen möglichkeiten der schriftbehandlung im film verlangen geradezu nach einer grösser angelegten komposition als in den drei kinematografischen texten, die noch zu erbringen wäre.


BEMERKUNGEN ZUM SCHRIFTFILM »WITZ«

witz ist – nach den 1970 im sender freies berlin realisierten drei kinematografischen texten – mein zweiter konsequenter schriftfilm. hier erscheint die schrift allerdings nicht auf einer fläche, sondern auf einem weiblichen körper, also räumlich projiziert. für dieses projekt hatte ich einen inhaltlich besonders geeigneten arztwitz gefunden. sein wortlaut wird derart präsentiert, dass sich die »patientin« sukzessiv ihrer kleidung entledigt, wodurch die auf der haut fixierten buchstaben sichtbar werden. fällt das letzte kleidungsstück, erscheint die pointe.

der hier vorliegende film entstand 2007 als remake einer erstfassung, die vor jahrzehnten für einen deutschen fernsehsender produziert wurde, aber nur fragmentarisch, ohne den unverzichtbaren schluss erhalten ist. die vermutung liegt nahe, dass es sich hier um einen akt der zensur handelt, da am schluss ein nackter unterleib zu sehen ist.

während in der urfassung des ersten teils noch das modell, bei schwarzem bild, die beiden ersten sätze spricht, schien es mir nun konsequenter, auch diesen textteil schriftlich zu vermitteln. so liest man hier die einzelnen wortsequenzen in weisser schrift auf schwarzem grund, bevor das modell im zweiten teil in aktion tritt. technisch realisiert wurde die neufassung von hubert sielecki, als modell fungierte evgenia stavropoulos


GERHARD RÜHM:
WITZ – ein schriftfilm (1968/2007). unveröffentlichtes filmmanuskript



Über den Autor

Foto: © Isolde Ohlbaum

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, studierte Klavier und Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Seit Anfang der 50er Jahre produzierte er Lautgedichte, Sprechtexte, visuelle Poesie, Photomontagen und Buchobjekte. Er ist Mitgründer der Wiener Gruppe (mit Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener) und auch Herausgeber der gleichnamigen Anthologie. Von 1972 bis 1996 war er Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und von 1978 bis 1982 Präsident der Grazer Autorenversammlung. Rühms Arbeiten sind im Grenzbereich von Musik, Sprache, Gestik und Visuellem angesiedelt. Seine Hör-Produktionen sind herausragende Beispiele für das Neue Hörspiel und die Akustische Kunst. Seit 1978 ist er Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg. Seit 2005 gibt Michael Fisch seine Gesammelten Werke heraus. Rühm erhielt zahlreiche Preise, darunter den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (1991), den Alice Salomon Poetik Preis (2007) und Karl-Sczuka-Preis (2015)