Essay, Magazin
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Beat Vision

Stimme, Ton und Voice-Over im Poetryfilm als subversive Medien

»There can be no new vision without a new tongue.«
Mary Ann Caws ‹1›

Ich möchte zunächst eine grundsätzliche Überlegung voranstellen, warum es sich lohnt, die Funktion von Stimme, Ton und Voice-Over in einem Poetryfilm als subversive Medien zu reflektieren. Die Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser und Malte Hagener bemerken, dass »Filmwahrnehmung stets mehr als nur einen Körpersinn involviert, […] sodass Forschungen unter dem Stichwort Synästhesie oder der Intermodalität derzeit Konjunktur haben«, auch wenn »die exakte Funktion der einzelnen Sinne und die Vernetzung der Sinne untereinander […] nach wie vor umstritten sind.« ‹2› 

Poetryfilme lassen sich als intermediale Kunstwerke definieren, die auf Grundlage oder unter Einbeziehung eines Gedichtes auditive und/oder typographische Elemente mit visuellen Elementen in Dialog bringen. Das kreative Ausloten dieser Ausdruckformen in Bezug auf das Gedicht vollzieht sich dabei nicht nur bi-, tri-, multi- oder x-medial, sondern es erzeugt im besten Fall eine vielschichtige, sich gegenseitig erhellende Wirkung. Der Intermedialitätsforscher Dick Higgins hält in diesem Sinne fest: »By ›intermediality‹, I refer to the dynamics of fusion, hybridity, and cross-pollination between media, as distinct from the ›additive mixtures‹.« ‹3› Aufgrund der Hybridität, der Fusion und der gegenseitigen Befruchtung medialer Ausdrucksformen wird im Poetryfilm der Versuch unternommen, etwas Neues zu erzeugen – eine ›new vision‹ bzw. eine ›new audiovision‹. Der poetische Ausdruck geht dabei über die monomediale Kommunikation traditioneller Medien und Präsentationsformate wie einer Lesung, einem Gedichtband oder eines Hörgedichts hinaus und betritt seit dem frühen 20. Jahrhundert mediales Neuland. Eine große künstlerische Herausforderung dabei ist, das oft komplexe Sounddesign mit der vielschichtigen Bildebene in Bezug zu setzen, um damit einen Mehrwehrt der poetischen Erfahrung zu generieren.

Das Faszinierende dabei ist, dass es manchen Poesiefilmemacher/innen gelingt, aus dem gesamten ihnen zur Verfügung stehenden (inter)kulturellen Repertoire dichterischer Ton- und Schriftelemente, den gesamten visuell-gestalterischen Mitteln an Film- und Animationskunst sowie dem gesamten schöpferischen Reichtum der aufgezeichneten und technisch manipulierbaren Musik- und Klangwelt etwas zu produzieren, mit dem man assoziativ nicht gerechnet hatte.

Wer die Poetryfilme The Dead ‹4› oder The Art of Drowning ‹5› des Amerikaners Billy Collins kennt, in denen sehr stark mit einer visuell-semantischen Doppelung des Gehörten gearbeitet wird, der weiß, dass es eine große Bandbreite unterschiedlicher Poesiefilme gibt. Es geht mir jedoch nicht um einen Idealtypus – das Genre lebt ja geradezu von seiner Diversität –, sondern um jenen Typus von Poesiefilm, in dem es aufgrund der Tonebene zu einem Erwartungsbruch kommt. Es geht hier also um jene Poesiefilme, in denen sich ein Audiogedicht (auch in Kombination mit Klang und Geräuschen) gegen das Visuelle stellt, es kommentiert, subversiv unterwandert, ins Gegenteil umkehrt, ja sogar zerschlägt, und damit deutlich macht, wie wichtig die Funktion der Tonebene im Poetryfilm sein kann.

Was macht also die Tonspur mit der Bildebene, wenn sie sich subversiv verhält? (Auch das Umgekehrte ist natürlich möglich.) Ich möchte dazu im Wesentlichen drei Funktionen vorschlagen:

Eine zentrale Funktion ist, dass Dichtung als eine kritische Stimme innerhalb der globalen Medienwelt fungieren kann, zu deren Teil sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts geworden ist. Aus dieser Position heraus werden häufig historisches und zeitgenössisches Filmmaterial aus den Alltagsmedien (z. B. dem Fernsehen, dem Radio, dem Internet) – oder auch found-footage – häufig durch lyrische Audiotexte kommentiert, kritisiert und parodiert und damit subversiv unterwandert.

Eines der berühmtesten Beispiele dafür ist Allen Ginsbergs The Ballad of the Skeletonsdas im Jahr 1997 von dem bekannten Filmemacher Gus Van Sant mit einem musikalischen Sound-Track von Paul McCartney und Philip Glass produziert wurde. Ginsberg gelingt es in seinem Werk, zwar ironisiert, aber dennoch scharf Kritik an der U.S.-amerikanischen Politik- und Medienlandschaft zu üben. Er inszeniert sich in dem Clip als einen ›Homo Subversivus‹, der wie Thomas Ernst in seinem Buch Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart festhält, »im Vertrauen auf eine bessere Welt lebt, die er durch den Umsturz der gültigen Weltordnung erreichen möchte« und somit innerhalb einer »künstlerischen-avantgardistischen Entwicklungslinie« ‹6› zu verstehen ist. Auch wenn The Ballad of the Skeleton sehr nah am Musikvideo ist, lässt sich die subversive Funktion der poetischen Stimme im Poetryfilm sehr gut verdeutlichen.

In diesem Performance-Poetry Clip untergräbt Ginsbergs Sound-Ballade, die vorwiegend diegetisch als auch nicht-diegetisch eingesetzt wird, das visuelle Material subversiv. Ginsbergs Spoken-Word-Gedicht referenziert dazu nicht nur illustrativ auf das Bildgeschehen. Er kommentiert zeitgenössisches footage u. a. aus dem 1. Irak-Krieg, der U.S.-Vorwahl von Bob Dole gegen Bill Clinton, aber auch historisches Filmmaterial etwa aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der Apollo-Mission, dem Vietnam-Krieg oder der Hippie-Bewegung. Ginsberg inszeniert sich dabei nicht nur als einen schreibenden und performenden Dichter, sondern er übt in dieser Funktion Kritik an den stark polarisierten gesellschaftlichen Werten und Meinungen, die über Nachrichtensender, Talkshows, Werbung, die Kirche, Demagogen, Richter, den CIA etc. kolportiert werden und mit der sich Amerika – so eine mögliche Interpretation des Gedichts – selbst ein Grab schaufelt.

Ginsberg gibt den (demokratischen und republikanischen) Disput mittels der repetitiv-anaphorisch eingeleiteten Phrase »said the«, »said the« etc. wieder, wobei seine Stimme durch den musikalischen Soundtrack aus E-Gitarre, Schlagzeug, Keyboard und Maracas-Rasseln rhythmisch unterstützt wird. Insgesamt wird in dem Clip die Inszenierung und Positionierung einer selbstbewussten Dichterfigur deutlich, die sich medienkulturell mit Stift in der Hand, einem Buch im visuellen Hintergrund sowie durch Close-Ups des Gesichts gegen eine medialisierte Welt stellt. Diese Medienwelt machte sich Ginsberg kreativ zu Nutze, um sich auch weiterhin als Dichter Gehör zu verschaffen.

In dieser Tradition sind seit den frühen 1980er bzw. 1990er Jahren auch Anne Waldman mit Uh Oh Plutonium ‹7› sowie Cin Salach mit Vogue With War Dead ‹8› verankert. Auch international setzt sich diese subversive Strategie der Tonebene immer stärker durch. Als eines von zahlreichen Beispielen dafür gelten die Four Seasons Productions Standard Oil Company des irakisch-amerikanischen Filmemachers DJ Kadagian ‹9› mit einem englischen Voice-Over des ins Englische übersetzten spanischen Gedichts von Pablo Neruda aus dem Jahr 1943; oder auch Massacre in Murambi des amerikanischen Filmemachers Sam Kauffmann aus dem Jahr 2007, der dafür den Global Justice Award erhielt. ‹10›

Im deutschsprachigen Film lässt sich diese Strategie durch den österreichischen 13-minütigen Literaturfilm tschumbotschampoo oder Jörg Bungee verschollen am seil aus dem Jahr 2013 unter Regie von Sigrun Höllrigl mit einem Text des Filmemachers, Schauspielers und Aktivisten Hubsi Kramar sowie der Musik von Mark Neys (Swoon) verdeutlichen. Laut Pressetext übt der Film »Kritik am Staatswesen und Kleinbürgertum, sowie […] Kritik am Konsumismus und an der Verdrängung des Nationalsozialismus. Gearbeitet wird in Montage- und Layering-Techniken mit historischem Bildmaterial. In aufwändigen digitalen Bildbearbeitungsprozessen und Bildüberlagerungen entwickelt der Film eine der dadaistischen Gesinnung adäquate filmische Sprache. Der Spannungsbogen zieht sich von Politik, surrealen Wirklichkeiten, über die Wahrheit des Surrealen – bis hin zum Humor und endet im subversiven Lachen ex nihilo.« ‹11›  

Der Provokation durch die Stimme sind in diesem Clip keine Grenzen gesetzt. In diesem Beispiel wird außerdem deutlich, dass im Wechselspiel zwischen Tonebene und found footage – hier aus den U.S.A. – im Poetryfilm eine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zur Erhellung der eigenen Kultur stattfinden kann.

Medial auf andere Weise realisiert, aber ebenso kritisch positioniert und subversiv funktionalisiert ist das Gedicht des vielfach publizierten Berliner Dichters Björn Kuhligk Die Liebe in den Zeiten der EU ‹12› als Voice-Over im gleichnamigen Poetry Film von Susanne Wiegner.

Das Gedicht wurde im Rahmen des ZEBRA Poetry Film Festivals im Jahr 2014 gleich mehrfach verfilmt. Anders als der italienische Filmemacher Gabriele Nugara, der als Gewinner des Verfilmungswettbewerbs mittels historischen Filmmaterials auf den Bau der Berliner Mauer referenziert ‹13›, nimmt das folgende Beispiel nicht auf zeitgenössisches oder historisches Bildmaterial Bezug. Durch die Produktion eines Animationsfilms kommt es durch die Verwendung des Voice-Over zu einer subversiven, lyrischen Unterwanderung der Bildebene.

In der Funktionalisierung der Tonspur hört man zunächst ein dumpfes Rauschen des Meeres, das indexikal auf die visuelle Darstellung dunkler Meereswogen verweist. Ab der 16. Sekunde vermischt sich dieser düstere akustische Eindruck mit einer hastig-aufgebrachten Männerstimme – phonetisch verstärkt durch zahlreiche S-und Sch-Laute. Der Sprecher entwirft – völlig versachlicht und anonymisiert aus der dritten Person heraus – das Szenario der Notwendigkeit eines Grenzschutzes: »das muß, es/ darf geschossen werden, das/ muß, das darf gefilmt werden«.

Das Voice-Over spielt in den nächsten Zeilen explizit auf den gleichgültigen Fund von angespülten Menschenleichen, von »zwei, drei/ Zweibeiner[n]«, am Ufer an. Es signalisiert dabei keine Betroffenheit, sondern proklamiert in dogmatischer Haltung nüchtern: »es darf zurückgefeuert werden«. Die Tonspur der letzten gehörten Zeile des Gedichts, die wie ein Wiederhall auf »das darf gefilmt werden« prallt, geht in der nächsten Sequenz in ein lautes mechanisches Geräusch über, das einem Machinengewehrfeuer ähnelt. Es ergibt sich gerade durch die letzten verstummenden Zeilen des Voice-Overs eine interessante Kehrtwendung, da hier der Sprecher auditiv ankündigt, dass gefilmt werden darf. Es wird der Aufforderung nachgegangen, filmisch zurückzuschießen.

Während der visuelle Blick auf eine Mauer fällt, vor der das tobende Meer von Lichterkegeln durchzogen ist, wird durch einen Kameraschwenk nach oben eine immer stärker werdende akustische Ambiguität aufgelöst: Es sind keine Maschinengewehre, sondern Rotationsblätter von Hubschraubern, die nicht Menschen aus dem Meer vor dem Ertrinken retten, sondern zum Schutz der EU-Außengrenzen eingesetzt werden. Während in der nächsten Szene das Meeresblau mit der blauen Farbe der EU-Fahne visuell-kinetisch in Verbindung gebracht wird, verhärtet sich die subversive Funktion des Audiotextes. Es wird nochmals zurückgeschossen, dieses Mal mittels Texteinblendungen zur historischen Erklärung der Bedeutung der EU-Flagge und dem expliziten Verweis, dass in den letzten Dekaden laut Menschenrechtsorganisationen mehr als 17.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Damit wird das Thema Flüchtlingspolitik scharf in die Zange genommen.

Ein abschließendes Beispiel mit dem Titel Im Nebel stammt von Serge Mustu, der 2009 eine von ihm gesprochene und tontechnisch-modifizierte Version des gleichnamigen Gedichts von Hermann Hesse in Bezug zu found-footage vom Hamburger Bahnhof aus den 1980er (und jüngeren) Jahren setzt. Serge Mustu transformiert auf diese Weise das im ländlichen Raum situierte Hesse-Gedicht in die deutsche Großstadt.

Die Audioaufnahme des Gedichts erzeugt den Eindruck eines gedanklichen Lay-Overs zahlreicher wartender Bahnkunden, die teils verdutzt auf die Inhalte des durch den Lautsprecher vernommenen Audiogedichts reagieren. Das Voice-Over wird so zu einem subversiven Element, mit dem Serge Mustu spielerisch die diegetische und nicht-diegetische Wahrnehmung sowohl der Bahnkund/inn/en als auch der Rezipient/inn/en in einem wirkungsvollen Wechselspiel zwischen gedanklicher Introspektion und expressiver Öffentlichkeit auslotet.

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Die stimmliche und performative Präsenz des Dichters bzw. der Dichterin hat im Poetryfilm nach wie vor eine zentrale kulturelle Funktion inne. Lyriker/innen verschaffen sich innerhalb einer zunehmend medialisierten Welt Gehör und positionieren sich darin auffällig oft sozial- und medienkritisch. Audioaufnahmen von Gedichten können zudem das Bildgeschehen nicht nur fort- oder umschreiben, sondern im gleichen Atemzug dieser Transformation lässt sich eine neue visuelle Bedeutung generieren. Als abschließenden (aber nicht letzten) Punkt sehe ich eine wirksame Funktion von Ton, Stimme und Voice-Over im Bereich der tontechnischen Manipulation, mit der eine ›new audiovision‹ erzeugt werden kann. Diese realisiert sich in der poetischen Erfahrung des Poetryfilms dann, wenn die Tonspur das Bildgeschehen nicht nur in ein neues Licht rückt, sondern auch das Gehörte durch das Visuelle gedanklich erhellt wird.


Anmerkungen:
‹1› Mary Ann Caws: André Breton. Twayne’s World Author Series. Updated Edition. Boston: Twayne’s Publishing, 1996, S. 46.
‹2› Thomas Elsaesser u. Malte Hagener: Einführung in die Filmtheorie. Hamburg: Junius, 2010, S. 164.
‹3› Dick Higgins: Intermedia. With an Appendix by Hannah Higgins. In: LEONARDO, Vol. 34, Nr. 1 (Febr. 2001), S. 49–54, hier S. 51. – Online unter der URL: http://www.bussigel.com/systemsforplay/wp-content/uploads/2014/02/34.1higgins.pdf.

‹4› Billy Collins: The Dead, URL: https://youtu.be/iuTNdHadwbk.
‹5› Billy Collins: The Art of Drowning, URL: https://youtu.be/jIIcXRbwyvY.
‹6› Thomas Ernst: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: Transcript Verlag, 2014, S. 102.
‹7› Anne Waldman: Uh Oh Plutonium, URL: https://www.youtube.com/watch?v=FHX-PU9SN8A.
‹8› Cin Salach: Vogue With War Dead, URL: http://video.e-poets.net/SalachC/vid-Vogue.shtml.
‹9› DJ Kadagian: Standard Oil Company, URL: https://youtu.be/rFc-afPmrso.
‹10› Sam Kauffmann: Massacre in Murambi, URL: https://vimeo.com/14407127.
‹11› Siehe URL: http://www.kanonmedia.com/portfolio/bungee.html.
‹12› Das Gedicht von Björn Kuhligk ist auf Lyrikline.org nachzuhören, URL: http://www.lyrikline.org/de/gedichte/die-liebe-den-zeiten-der-eu-3175#.V6G06WWHY1g.
‹13› Gabriele Nugara: Die Liebe in den Zeiten der EU, URL: https://vimeo.com/111094973.

Der Vortrag wurde am 21. Mai 2016 in Weimar auf dem Colloquium »Ton und Voice-over im Poetryfilm« gehalten, das im Rahmenprogramm zum 1. Weimarer Poetryfilmpreis stattfand.

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