Film des Monats

Arte Poética

Film des Monats Mai 2016 •

Vielleicht erinnert uns der Klang von Borges’ Stimme daran, dass wir in Neels Castillons Poesiefilm »Arte Poética« (2012), wie in jedem Film, Geisterszenen beobachten: Momente, die längst aus der Welt verschwunden sind. Der Takt des tanzenden Liebespaares. Das Zittern der Broccolibäume unter dem violetten Abendhimmel.

Dass der große argentinische Dichter Jorge Luis Borges neben seiner Lyrik, den Erzählungen und Essays auch ein umfangreiches Werk im Bereich des Poesiefilms geschaffen hat, ist nur Wenigen bekannt. Abhandlungen zum Thema fehlen beinahe vollständig. Einzig in der argentinischen Enciclopedia de la película imaginaria findet man ein Echo seines filmischen Schaffens in Form eines zwölfseitigen Artikels. Darin heißt es: »Anders als häufig angenommen, entwickelte Borges bereits vor seiner Erblindung ein kinematographisches Verfahren, bei dem er ausschließlich vor dem Bluescreen seines inneren Auges inszenierte. Dass diese Methode die Reichweite der Wahrnehmung seiner Filme empfindlich beschränkte, scheint er gleichmütig in Kauf genommen zu haben.«

Glücklicherweise entdeckte der französische Regisseur Neels Castillon im Jahr 2011 während einer sechsmonatigen Reise durch Argentinien und Uruguay Borges’ Gedichte. Sie hielten ihn immer noch in ihrem Bann, als er nach seiner Rückkehr die entstandenen Aufnahmen in einem Film verarbeiten wollte. Wir dürfen annehmen, dass er sich deshalb für jene Kompositionstechnik entschied, die in der Filmwissenschaft unter dem Namen »Aleph-Montage« bekannt ist, und eine Annäherung wagt an Borges’ berühmtes Erlebnis in der Calle Garay, wo er 1941 einen Blick in das sagenumwobene Aleph werfen konnte, das in einem einzigen Punkt im Raum alle Punkte aller Räume, mit anderen Worten eine Momentaufnahme des gesamten Universums enthält.

So fand Borges mehr als 25 Jahre nach seinem Tod doch noch den Weg in einen der Öffentlichkeit zugänglichen Poesiefilm: als Sprecher in Arte Poética. Vorausschauend hatte er zu Lebzeiten seine Stimme konservieren lassen. Sie klang schon damals entrückt, wie aus einer anderen Welt, als wolle sie die Geisterexistenz vorwegnehmen, die alle Aufnahmen unserer Stimmen nach unserem Tod führen.

Vielleicht erinnert uns der Klang dieser Stimme daran, dass wir in Arte Poética, wie in jedem Film, Geisterszenen beobachten: Momente, die längst aus der Welt verschwunden sind. Der Takt des tanzenden Liebespaares. Das Zittern der Broccolibäume unter dem violetten Abendhimmel. Der Geruch des bengalischen Feuers im Stadion. Der Schwung des pendelnden Holzkreuzes. Der leergefressene Spinnenkokon. Das Licht der Straßenlaternen im Brillenglas des Taxifahrers.

Wer dabei eine leichte Melancholie empfindet, ist an den Rand des Flusses getreten, der aus Zeit und Wasser besteht und in dem sich unsere Gesichter auflösen. Nur ein Schritt weiter und die Strömung reißt uns mit, den Wasserfall hinauf.

Eine letzte Anmerkung: Der englische Untertitel des Films verschweigt zwei Zeilen des Gedichts. Wie jede Entscheidung in der Kunst, ist auch diese kein Zufall. Doch so wie die Kunst jedes Recht besitzt, uns zu verwirren, dürfen wir noch einen draufsetzen, in unsere Bibliothek gehen, den Band El hacedor aus dem Regal nehmen und eine vollständige Übersetzung des Gedichts – ohne Anspruch auf Druckreife – auf den Bildschirm huschen. Die fehlenden Zeilen sind mit einem Stern markiert. Welche Absicht der Film mit seiner Auslassung verfolgt – über diese Frage dürfen wir demnächst erste Dissertationen erwarten.

Jorge Luis Borges

Ars Poetica

Einen Fluss zu betrachten aus Zeit und Wasser
und sich zu erinnern, dass auch die Zeit ein Fluss ist,
zu wissen, dass wir verloren sind wie der Fluss
und sich die Gesichter wie Wasser auflösen.

Zu fühlen, dass Wachsein ein weiterer Traum ist,
der träumt, dass er nicht träumt und dass der Tod
* den unser Fleisch fürchtet, der Tod
aus jeder Nacht ist, den wir Schlaf nennen.

Im Tag oder im Jahr ein Symbol zu sehen
für die Tage der Menschheit und ihre Jahre
und die Demütigung der Jahre zu verwandeln
in Musik, einen Klang, ein Symbol.

Im Tod einen Traum zu sehen, im Sonnenuntergang
ein trauriges Gold, das ist Poesie,
unsterblich und arm. Poesie,
die wiederkehrt wie Dämmerung und Sonnenuntergang.

Manchmal schaut uns am Abend ein Gesicht
aus den Tiefen eines Spiegels an;
Kunst muss dieser Spiegel sein,
jedem von uns sein Gesicht enthüllen.

* Man sagt, dass Odysseus, von Wundern gesättigt,
vor Liebe weinte, als er sein Ithaka sah,
grün und bescheiden. Kunst ist dieses Ithaka
der grünen Ewigkeit, nicht der Wunder.

Sie ist auch wie der grenzenlose Fluss,
vergehend und bleibend, ein Spiegel für den gleichen
unbeständigen Heraklit, welcher der gleiche ist
und doch ein anderer, wie der grenzenlose Fluss.

Übers. Ralf Schönfelder

Informationen zum Film

Informationen zum Autor

Ralf-Schoenfelder-2Ralf Schönfelder, geb. 1982 in Gera, studierte Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig und arbeitete anschließend an verschiedenen Theatern in Halle und Freiberg sowie als Lektor beim Merlin Verlag in Gifkendorf bei Lüneburg. Seit 2014 ist er Projektmanager auf der Literatur- und Kunstburg Ranis und organisiert alljährlich die Thüringer Literatur- und Autorentage.