Film des Monats

Anna Blume

Film des Monats September 2015

Ein Liebesgedicht an eine Frau, gleichzeitig der Versuch, das Besondere der Geliebten zu beschreiben. In ihrem Poesiefilm »Anna Blume« (2009) schließen sich Ebele Okoye und Vessela Dantcheva an die Vorgaben Kurt Schwitters an – radikal subjektiv, versteht sich!

Ganz in dadaistischer Manier konstruiert Kurt Schwitters in seinem Gedicht An Anna Blume aus dem Jahr 1919 starke Bilder, um sie gleich darauf zu brechen oder gar ad absurdum zu führen. Der Versuch, beim Lesen die Geliebte vor dem inneren Auge erstehen zu lassen, wird jeden in arge Schwierigkeiten bringen. Hier knüpft der Animationfilm Anna Blume (2009) an. Der Kurzfilm wurde mit den finanziellen Mitteln der Robert Bosch Stiftung und des Bulgarischen National Film Centre produziert. Er lief seitdem auf mehr als achtzig Festivals und hat zahlreiche Festivalpreise gewonnen.

Ebele Okoye und Vessela Dantcheva erliegen nicht der Versuchung, ein klar umrissenes Portrait der Anna Blume zu zeichnen. Vielmehr ist es das ausufernde Verlangen des Liebenden, »die Wollust und das Bedürfnis nach Vereinnahmung im Gewand der Liebe«, die hier visualisiert werden.* Wie die Gedichtvorlage so evoziert auch der Film starke Bilder, spinnt irreale Beziehungen und wirkt befremdlich und verfremdend bis zum Schluss.

Zunächst wird nicht die Angebetete eingeführt, sondern die Präsenz des Sprechers etabliert: Zigarettenqualm drängt sich schon in den Vorspann. Dann ist das Schreiben eines Stiftes auf Papier zu hören, gleich darauf Kurt Schwitters Stimme in einer Aufnahme aus dem Jahr 1932, der den ersten Teil des Gedichts rezitiert. Die Präsenz des Verfassers wird durch die Tonebene fast körperlich spürbar, während auf der visuellen Ebene der Zigarettenqualm den Blick zur stark stilisierten schwarz-weißen Szenerie der ersten Einstellung führt.

Es entwickelt sich im folgenden ein spannungsreiches Beziehungsgeflecht sowohl zwischen dem Wortlaut des Gedichts und der visuellen Gestaltung des Films, als auch zwischen der Etablierung der visuellen Motive und deren Verwandlungen über die gesamte Dauer des Films. Das von Schwitters rezitierte Gedicht dient als Voice-over – allerdings wird es durch lange Pausen unterbrochen, in denen das Visuelle im Vordergrund steht. So wird dem Bild genug Raum gegeben, seine ganz eigenen erzählerischen Qualitäten zu entfalten. Beschreibungen, die im Text auftauchen, finden sich in vielfältiger Weise im Film wieder, etwa wenn Anna auf Händen geht (»Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände auf den Händen wanderst du«), sich ein schwarzer Vogel aus ihren Haaren löst (»Anna Blume hat ein Vogel«) oder sie ein grünes Ungeheuer anfaucht. Die Elemente werden aber überwiegend gerade nicht dann sichtbar, wenn sie hörbar sind und umgekehrt.

Die Mittel der Animation setzen Okoye und Dantcheva ganz bewusst ein. Was die Erschaffung der Bildwelt mit ihren belebten Gegenständen und seltsamen Kreaturen angeht, so ist das augenfällig. Ein weiterer Aspekt sind die fließenden Übergänge von einer Einstellung zur anderen, die die Dramaturgie des Films bestimmen. Die kaum texturierten Farben und Formen, in denen die Szenerie gestaltet ist, erlauben es, das Dargestellte beständig neu zu definieren. Der Betrachter wird so in die Irre geführt, überrascht und in ungeahnte Kontexte entführt.

Anna Blume entwickelt mit seinen surreal anmutenden Bildwelten eine ganz eigene Poetik. Hauptprotagonist ist zunächst eine Kreatur, die sich aus dem Lippenstiftabdruck einer Kaffeetasse löst. Von einem schwarzen Hut verfolgt, flieht sie in die Stadt, macht sich selbständig, verschlingt gierig rote Dinge aus der sonst schwarz-weißen Welt um sich, wächst und mutiert dabei beständig. Zuletzt wird sie vom Hut eingeholt und gebissen. Das mittlerweile riesige Wesen platzt und überschwemmt die Stadt, bis sich die gesamte Bildfläche mit Rot füllt, aus der sich endlich die unschuldige Figur Annas im roten Kleid löst – nachdem nahezu zwei Drittel des Films vergangen sind (5:08)! Bereits vorher werden allerdings Hinweise gestreut, die Anna als Protagonistin einführen: zuerst der rote Lippenstiftabdruck am Rand der Kaffeetasse (0:48). In der zweiten Minute taucht im Hintergrund ihr Gesicht als Wandmalerei auf (2:04), dann erscheint sie als sirenenhafte Moderatorin auf einer Wand von Fernsehmonitoren, die die lechzenden Zuschauer vor einem Fernsehgeschäft betört (2:51).

Zuletzt löst Anna sich auf. Sie wird von einem der Buchstaben gebissen, die sie umzingeln: A-N-N-A. Aus der Bisswunde strömen weitere Buchstaben (7:00). Anna wird zu dem, was sie ist: zur Fiktion des Dichters. Die Buchstaben verlieren sich im Schwarz des Bildes – nein, im Schwarz der Tinte! Denn nun löst sich ein Tintenfass aus der Einstellung, die uns in den Raum zurückbringt, mit dem der Film begann: Der Brief »An Anna Blume« liegt auf dem Tisch. Er ist fertig geschrieben.


* Siehe die Filmpräsentation auf der Seite der Robert-Bosch-Stiftung mit weiteren Informationen.

Informationen zum Film

  • Anna Blume
  • D / Bulgarien 2009, 9:35 Min.
  • Regie: Vessela Dantcheva
  • Künstlerin: Ebele Okoye
  • Gedicht (1919) u. Voice-over (1932): Kurt Schwitters (1887–1948)
  • Preise: u.a. ›Ritter-Sport-Preis‹ ZEBRA Poetry Film Festivals 2010

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