Editorial, Magazin

Editorial: Das Kino der Poesie

Call for Essays für den Thementeil der 5. Ausgabe des Poetryfilm Magazins

Liebe Leserin, lieber Leser,

Anfang Mai erschien im Elif-Verlag unter dem Titel Cinema eine neue Anthologie mit Gedichten zum Kino und zum Film. Von José Oliver bis Ulrike Almut Sandig vereint der Band eine lesenswerte Vielfalt von Texten, in denen die Faszination der Lyriker am Kino auf sprachlich eindrucksvolle Weise zum Ausdruck kommt. In unserer neuen Ausgabe des Poetryfilm Magazins möchten wir die umgekehrte Faszination in den Blick bringen: die Faszination von Filmregisseuren an der Poesie und Dichtung. Diese Richtung im Verhältnis von Lyrik und Film scheint heute besonders wichtig.

Würde man den Poetryfilm nämlich auf die Verfilmung von Gedichten reduzieren, übersähe man, welche Bedeutung der Lyrik im Laufe der Filmgeschichte zukam. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich Filmemacher von Dichtern und Gedichten in ihrem Schaffen inspirieren lassen, sie zum Vorbild genommen oder mit ihnen gewetteifert.

Dieses »Kino der Poesie«, so der Titel eines einflussreichen, allerdings kritisch gemeinten Beitrags von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1965, erstreckt sich vom Independent-Experimentalfilm bis zum umsatzstarken Autorenkino, von Stan Brakhage bis Jim Jarmusch.

Im Bemühen, die Filmsprache und das Filmemachen von der Lyrik aus zu betrachten, haben die Regisseure und Theoretiker zugleich die Unterschiede beider Kunstformen hervorgehoben. Die Poetizität der Poesie ist nicht einfach die des Films. Der Film hat seine eigene Poetizität. Und Gleiches gilt für den Poetryfilm. Auch er bezieht seine poetische Wirkung nicht einfach aus der Tatsache, dass das Gedicht ein Teil von ihm ist oder er Lyrik illustriert.

Poetryfilme können ihre lyrische Vorlage textnah oder textfern aneignen. Sie können die Gedichte dem Buchstaben oder dem Geiste nach adaptieren. Textnahe Filme kommen an ihre Grenzen, wenn die Illustrierung des Textes störend, unnötig oder gar überflüssig erscheint. Von der Lyrik her inspirierte Filme stoßen an ihre Grenzen, wenn ihnen der konkrete Textbezug abhandenkommt und sie in erster Linie auf eine zum Gedicht kongeniale Bildsprache abzielen.

Unsere Ausgabe versteht sich als Plädoyer, dem ›poetisch inspirierten‹ Film mehr Aufmerksamkeit zu schenken und nicht die Buchstabentreue zum Maßstab der gelungenen Gedichtverfilmung zu wählen. Der Poetryfilm ist auf der Suche nach seiner eigenen Poetizität. Auch das poetische Autorenkino sollte bei dieser Suche leitend sein.

CALL FOR ESSAYS

Für die nächste Ausgabe unseres Magazins wünschen wir uns daher Beiträge, die etwa fragen: Welche Rolle kann die Filmsprache und Ästhetik des poetischen Autorenfilms für den Poetryfilm spielen? Welche Mittel in der filmischen Bildsprache lassen sich auf das lyrische Sprechen beziehen? Wie ist das Verhältnis von filmischer und lyrischer Poetizität beschaffen? Gibt es dabei spezifische Unterschiede zwischen Real- und Animationsfilm? Wann verfügt der Poetryfilm über eine eigenständige Form von Poetizität und wann ist er lediglich die Summe verschiedener Poetizitäten? Außerdem suchen wir nach Einzelstudien, die die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Lyrik für Teile der Filmgeschichte oder für einen bestimmten Filmemacher herausarbeiten und den komplexen Transformationsprozess beschreiben, der sich bei der künstlerischen Aneignung zwischen Text und Filmbild ereignet.

Alle Interessierten sind erneut herzlich eingeladen, uns ihre Essays (bis 10.000 Zeichen inkl. Leerzeichen lang und möglichst ohne Fußnoten) bis zum 31. Oktober einzusenden.

Wir freuen uns auf eure anregenden und spannenden Beiträge!

Aline Helmcke, Guido Naschert