Film des Monats

Der letzte Tag der Republik

Film des Monats Januar 2016

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer fällt auch der Palast der Republik. Der amerikanische Filmkünstler Reynold Reynolds filmte 2008–2009 die letzten Abrissarbeiten, die politische Demontage kollektiver Erinnerungen. Gerhard Falkner verfasste zu dem poetryfilm das gleichnamige Gedicht.

»Ein Koloss aus Beton, Geschichte und Zeit, der geht nicht, – ohne dass etwas bleibt, was noch verschwindet, wenn alles längst vorbei ist.«

Gerhard Falkner

»Die Posthistoire als entropische Endzeit ist das Zeitalter der starren Unvergänglichkeit, der Ruinenlosigkeit und daher auch der Ruinennostalgie.«

Hannes Böhringer

Wir leben hinterdrein, leben hinterher, danach, danach oder post, post leben wir im irgendwo nach der Geschichte beginnt unsere Geschichte ohne Geschichte, in der Posthistoire, sagt man, da nichts Neues geschieht, geschehen kann: Keine Katastrophe, denn die ausstehende, die vertagte Katastrophe ist die Katastrophe, wir verwarten unsere Gegenwart, die keine großen Umbrüche, keine Revolutionen, keine Konterrevolutionen mehr kennen soll, nur den ewigen Moment gestundeter, verwalteter Erinnerung. Wir warten uns die Füße in den Brachen und Halden wund, in den leeren Gehäusen der Weltstädte, nistet geschichtslose Menschheit sich ein, im Abraum der Utopie: Was gedacht werden konnte, ist vorläufig gedacht (Kommunismus, Sozialismus, Kapitalismus, Kreditismus usw. usf.), die Geschichte ist auserzählt. Was bleibt, was sich noch, uns noch forterzählt, sind die Ruinen, beredete Zeichen die abgebrochen in die Gegenwart staken, ruinös und fragmentarisch wie unser Gedächtnis selbst. Sie verwahren, was die Zeit zerstört. Sie sind anwesend in der Abwesenheit, eine verwilderte, verblichene Vergangenheit, ein Hier ohne Jetzt. Hier ist nicht Theben, Erster der Pfeifer, nein, hier ist der Sumpf über dem Wasser der Spree. Hier ist die Mitte Berlins und dort steht man unter Linden. Hier stand die Zwingburg Friedrich des II. Hier stand das Stadtschloss. Hier schlief der Friede eine dreimal lange Nacht. Hier zog Napoleon ein und wieder aus. Hier pfiff der erste Weltkrieg den Marsch. Hier stand Karl Liebknecht. Hier ist das Stadtschloss im Zweiten gefallen. Hier stand letztlich noch der Palast der Republik über dem Wasser der Spree stand Erich Honecker und legte einen Stein wie schon Friedrich der II. in den Sumpf. Hier war die Post und dort die Bowlingbahn. Hier der Sozialismus und dort die SED. Hier die Volkskammer und dort die Bar. Hier standen sich die Demonstranten im grauen Oktober die Füße wund. Hier war Udo und dort ein Kessel Buntes. Hier war der Osten und dort der Westen. Hier ist die Wiedervereinigung. Hier ist der letzte Tag der Republik. Hier stand letztlich noch der Volkspalast über dem Wasser der Spree ist heute ein Loch in der Luft, so groß wie ein Schloss. Was blieb ist ein Jetzt ohne Hier, was blieb sind die Kräne und Bagger, die sich mühsam durch die betonierte Geschichte, die Reste unseres Gedächtnisses äsen, während Marx und Engels auf gepackten Koffern sitzen. Was blieb. Gras drüber. Was blieb: eine Ödnis. Gras drüber. Was blieb: die anwesende Abwesenheit. Gras drüber. Was blieb: eine geteilte Erinnerung ohne Ort. Gras drüber. Rechnen wir mit den Beständen: 56.600 t Beton, 19.300 t Stahl und Eisen, 500 t Glas, 600 t Ziegel und Holz, 1.000 t Bitumengemische, Kunst- und Dämmstoffe, 200 t Asbestgemisch – wie nicht gewesen. Wir rechnen die Trümmer auf, sortieren die Erinnerungen in die Archivmäppchen, mit deutscher Akkuratesse, nach Ost was Ost, nach West was West, wir bergen den Schutt, wir unterscheiden zwischen privat und öffentlich, zwischen Jugendweihe und Plenum, zwischen Ideologie und Wahrheit, letztlich, so wird gesagt, zwischen Diktatur und Demokratie, die blauen ins Töpfchen, die roten ins Kröpfchen, wir trennen, teilen entzwei, dafür brauchen wir keine Mauer, dafür haben wir die Vergangenheit trennt das HIER noch einmal und endgültig vom JETZT, wir rechnen Geschichte gegen Geschichte, wir ziehen einen Strich unter die Rechnung und zählen die lausigen Groschen in der Hand, was noch verwertet werden kann, wird umgewidmet, versetzt und verschachert summt es fortan die fröhliche Melodei des Kreditismus unter der Motorhaube des deutschen Volkswagens, der unbiegsame Rest kratzt den Himmel über Dubai, was blieb vom Palast der Republik wurde unter den Wolken gestapelt, es blieb das höchste Gebäude der Welt. Wer jetzt nicht lacht, ist selbst schuld. Was kommen wird? Oben lauter antike Figuren und unten lauter Figuren mit keine Ahnung von Antike. Was kommen wird, wird stehen auf dem ewigen Sumpf über der Spree. Was kommen wird, hat von nichts gewusst und will von nichts gewusst haben und längst nichts mehr wissen. Was kommen wird, ist die Geschichte ohne Geschichte am Ende der Geschichte. Bleiben werden: das Wasser über der Spree und die Wolken unter dem Schloss. Alles andere muss fallen. Erst wenn die Wolken ins Gras beißen, wird dieses Stück Geschichte gegessen sein.

Informationen zum Film

Über die Autorin

nancyhuengerNancy Hünger, geboren 1981, studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar und verschrieb sich danach ganz der Literatur. Sie lebt als freie Autorin in Erfurt. Im Herbst 2008 erhielt sie ein Hermann-Lenz-Stipendium, 2012 das Dürener Förderstipendium Lyrik. Im Jahre 2011 war sie Jenaer Stadtschreiberin, 2013 Stipendiatin des Künstlerhauses Edenkoben. Im Jahre 2014 erhielt Nancy Hünger den Caroline-Schlegel-Förderpreis der Stadt Jena für einen Essay zur Erzählung »Alte Abdeckerei« von Wolfgang Hilbig, 2015 das Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach.