Festivalnews, Magazin

4. Weimarer Poetryfilmpreis 2019

Ein Rückblick aus der Sicht des Praktikanten

Mitte Mai 2019 bekam ich durch einen Praktikumsplatz bei der Literarischen Gesellschaft Thüringen unverhofft die Möglichkeit, den 4. Weimarer Poetryfilmpreis organisatorisch zu begleiten. Mein Erfahrungsschatz im Bereich Kulturmanagement war denkbar klein und auch der Begriff »Poetryfilm« hatte bis dato noch nicht wirklich meine Wege gekreuzt. Da ich jedoch hier und da bereits über Filme vieler Art geschrieben hatte und auch das Feld der Poesie mir, so meine vorsichtige Annahme, durch mein nunmehr 3-jähriges Literaturwissenschaftsstudium nicht komplett fremd war, blickte ich dem Ganzen neugierig entgegen. Nachdem ich in den Wochen vor der Veranstaltung auch noch die halbe Weimarer Innenstadt gekonnt und effizient mit den gelb-grünen Plakaten beklebt hatte, war meine Vorfreude deutlich spürbar. Ich las mich ein, machte mich zumindest mit Maya Deren vertraut und schaute mir viele der für den Preis nominierten Werke im Voraus an. Außerdem stieß ich während meiner Recherche auf Tom Konyves, einen der Pioniere und prägenden Theoretiker des Begriffs »Videopoetry«. Nur wenige Tage später sollte ich ihn bei einer Zigarette persönlich kennenlernen.

»You are doing well. The intern does not talk.« waren einige der ersten Worte, die ich von ihm zu hören bekam, nachdem ich mich in einem Gespräch zwischen ihm und meiner Chefin Sigrun Lüdde höflich im Hintergrund gehalten hatte. Nun gut, dachte ich, so bleibt mehr Zeit zum Beobachten und Ausarbeiten meiner persönlichen Perspektive auf das Wochenende des 4. Weimarer Poetryfilmpreises.

Ein Freitag im späten Mai. Ein wolkenloser Himmel gelegen über Temperaturen, die sich im ersten Moment nicht nach Kino anfühlen. Trotzdem sammeln sich langsam die ersten Besucher*innen im noch kühlen Vorraum des Lichthauses, bilden kleine Gruppen und halten zusammengerollte Programmhefte in Händen, deren Gelenke seit kurzem mit einem hellgrünen Papierband geschmückt sind. Um kurz nach 15 Uhr sind fast alle Sitze des dritten Saals hinter dem kleinen Empfangsraum besetzt. Auch die Sofas im vorderen Bereich. Im Sonnenlicht, das sich in kleinen Streifen durch die schmalen Lücken des großen Holztors rechts neben der Leinwand drückt, ist staub zu erkennen. Angeregtes Gemurmel in stehender Luft. Langsam verstummt das Publikum und das Spektakel wird feierlich eröffnet.

Mit der Unterschrift Fokus Iberoamerika legt das diesjährige Festival neben dem Screening der nominierten Wettbewerbsfilme, einen Schwerpunkt auf die spanischsprachige Videopoesie. Que conveniente, denke ich mir als spanischlernender Mensch und lasse mich einstimmen durch die Filme aus Spanien und Lateinamerika, durch das letzte Gedicht von Samuel Beckett (Qué palabra), durch die Unmöglichkeit, Steine mit Messern durchzuschneiden und poetischen Nahaufnahmen im Prozess des Kuchenbackens. Als die Leinwand schwarz bleibt, fällt es mir schwer, das Gesehene einzuordnen. Dieses Gefühl wird mich das ganze Wochenende über begleiten. Ein Gefühl, dass sich innerhalb dieser kurzen Filme irgendetwas reibt und ins Verhältnis tritt, dass Text und Filmbilder in Austausch treten, ohne sich je ›nur‹ abzubilden oder sich gegenseitig zu adaptieren.

Einige konkretere Perspektiven auf den Poetryfilm und auf Eckpunkte des historischen Diskurses lerne ich im Zuge des Colloquiums am Morgen des zweiten Festivaltages kennen. Erneut sind die Temperaturen in Weimar schnell auf über 30 Grad gestiegen, und während ich erstaunlich ausgeschlafen die Technik bediene, referiert Thomas Zandegiacomo Del Bel, Leiter des Berliner ZEBRA Poetryfilm Festivals, im Obergeschoss der Eckermann Buchhandlung über die Avantgarden des Genres. Kurz darauf begleiten wir Theresia Prammer, Essayistin und Übersetzerin, in die Gedankenwelt von Pier Paolo Pasolini und das Obsessive seiner Kino-Poesie. Trotz eisgekühltem Orangensaft stehen mir nach der kurzen Pause bei Tom Konyves’ Vortrag die Schweißperlen auf der Stirn. Einige der von ihm für den Vortrag ausgewählten Videos wollen nicht abgespielt werden, und mit zunehmender Hektik versuche ich, wenigstens ein paar der Videobeispiele auf dem Laptop zum Laufen zu bringen. Mit durchwachsenem Erfolg. The intern, not so silent anymore, apologizes.

Letztendlich geht die Sache glimpflich aus, der Text wird später samt aller Videos auf der Seite des Poetryfilmkanals veröffentlicht, und nach den Anmerkungen Guido Nascherts zu Konyves’ Vortrag verlagert sich die kleine Gruppe an Festivalbesucher*innen zurück in die kühlen Räume des Lichthauses. Ich selbst widme mich in den Pausen des Festivals der Dokumentation durch Fotografie, traue mich hier und da ein paar Worte Spanisch zu sprechen und halte den Instagram Accounts des Poetryfilmkanals aktiv. Social Media Management. Die Menschen müssen auf dem Laufenden gehalten werden.

Bevor dem Publikum am Abend dieses Samstags schließlich die nominierten Filme vorgeführt werden, stehen zwei Sonderprogramme auf dem Spielplan. Die »Backup and Beyond Preview« beinhaltet eine Auswahl an kolumbianischen Kurzfilmen, das darauffolgende Screening besteht aus Werken, die im Rahmen des »lab/p – poetry in motion – German-Egypt poetry film projects« entstanden sind. Während die Gäste für den Genuss dieser Bilder wieder in Saal 3 verschwinden, mache ich für den näher rückenden Höhepunkt des Festivals letzte Besorgungen in der Stadt.

Als ich kurz vor 18 Uhr zurückkomme, sind die Sonderprogramme gerade ausgelaufen. Die Stimmung im kleinen Innenhof ist ausgelassen, die Mittagshitze hat sich verflüchtigt. Alles verschiebt sich ein wenig nach hinten, so ist das bei Festivals, kommentiert Guido Naschert mit einem Schulterzucken kurz bevor wir in den Saal gehen. Mit angenehmer Anspannung und last-minute Blumenstrauß sitze ich in einem der roten Sitze und warte auf den Beginn der Preisverleihung. Die Zeremonie wird durch eine Performance der galizischen Dichterin und Produzentin Celia Parra eingeleitet. Sie liest Texte aus ihrem Gedichtband Pantallas/Bildschirme vor, während sich auf der Leinwand hinter ihr Ebene für Ebene mit Wörtern füllt und uns die permanente Gegenwart des Digitalen, der Pixel vor Augen führt.

Es dauert ein wenig bis der Applaus verebbt, aber schließlich verdunkelt sich der Saal und die nominierten Filme werden abgespielt. Es ist eine Auswahl an Werken wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Wir sehen Scherenschnitte und Koiteiche, Anakondas und Wörter, deren einzelne Buchstaben sich zu Linien verdichten, um die Unterschiede zwischen Sprachen zu visualisieren. Wir sehen Räume sich zusammenziehen und wandern durch Schluchten von Plattenbauten vor pechschwarzem Hintergrund. Begleiten Wandernde und Wachsende. Wir reisen mit dem Geist der deutschen Romantik im Hinterkopf durch animierte Dünenmeere, durch Fotostrecken Berliner Partynächte und ein London voller Uhren. Im Strudel dieser Eindrücke vergesse ich oft, meine Wertungen auf den kleinen Zettel einzutragen, der allen Zuschauenden vor der Vorführung zur späteren Ermittlung des Publikumspreises in die Hand gedrückt worden ist. Die kurze Pause vor der Bekanntgabe der preistragenden Filme ist sehr angenehm. Die meisten Menschen bleiben sitzen, ein Kurzfilmprogramm ist in vielerlei Hinsicht fordernder für die Augen und das Gehirn als ein zusammenhängender Langfilm. Begleitet von stehenden Ovationen werden schließlich die prämierten Werke bekanntgegeben. Bereits vor dem Festival habe ich es mir schwer vorgestellt, diese Mischung aus Techniken und Themen irgendwie zu kategorisieren. Ganz zu schweigen davon, aus ihnen den vermeintlich besten Film auszuwählen.

Erstmals wurde dieses Jahr eine Unterscheidung zwischen Video und Animation von der Jury vorgenommen, woraus sich zwei Auszeichnungen ergeben haben. Der Preis für das beste Video wird an HIATUS verliehen. In diesem Film setzt sich die Regisseurin Vivian Ostrovsky mit einem Interview der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector auseinander. THE RIGHT TO FALL APART, ein buntes und doch beklemmendes Werk der Animationskünstlerin Rika Tarigan, gewinnt den Preis für den besten Animationsfilm, und die Special Mention geht an THE OPENED FIELD, produziert von der letztjährigen Jurypreisgewinnerin Helmie Stil. Im richtigen Moment bringe ich den Blumenstrauß auf die Bühne und verschwinde schnell wieder mit einem kurzen Grinsen Richtung Publikum. Zu meiner Freude gewinnt anschließend die wunderbare Scherenschnittparabel HATE FOR SALE der Niederländerin Anna Eijsbouts den Publikumspreis.

Gegen 21 Uhr ist die Zeremonie und der offizielle Teil des Tages beendet. Morgen früh wird als letzter Programmpunkt in der ACC Galerie VERSES AND FRAMES gezeigt. Das Werk von Belén Montero und Celia Parra ist die erste Dokumentation weltweit, die sich überhaupt mit dem Phänomen der Videopoesie beschäftigt. Sie wird das Festivalwochenende abrunden. Für mein Gefühl jedoch ist das Spektakel bereits an diesem Abend vorbei und einiges an Anspannung fällt von mir ab. Mit den Klängen der lateinamerikanischen Band Maní im Hintergrund sitze ich mit einer kleinen Gruppe Menschen im Hinterhof des Lichthauses, mittlerweile ist es dunkel geworden und meine Erschöpfung plötzlich sehr präsent. Während ich später Richtung Bahnhof fahre, schwirrt das Gesehene der letzten Tage immer noch in meinem Kopf umher.

Das Genre des Poetryfilms, soweit seine Historie auch zurückreicht, besetzt nach wie vor eine Nische, die hier in dieser kleinen Thüringer Stadt von einer engagierten Gruppe von Menschen gefeiert wird. Er ist für mich nach wie vor weder verfilmte Lyrik noch nur experimentelles Kino. Er setzt sich mit sich selbst auseinander und nutzt dafür eine Lücke zwischen Sprache, Text und Bild. Immer deutlicher wurde mir im Verlauf der vergangenen Wochen bewusst, dass genau dieses Undefinierbare, das Ungreifbare dieses Genre ausmacht. Etwas ist ständig in Bewegung, dynamisch und neu auslotend. Da existiert kein normatives, statisches Gebilde. Möglicherweise legt sich der Poetryfilm gerade deswegen passgenau in den Geist unserer Zeit. Wenn Ideologien und Einteilungen in schwarz und weiß wiedererstarken, wenn sich Fronten unterschiedlicher Wertesysteme verhärten und Diskussionen abebben, ist der Poetryfilm als Kunstform eine subtile aber kraftvolle Antithese, die von Kommunikation und Austausch getragen wird und das Potential hat, diese beiden Vorgänge und ihre Relevanz immer wieder neu sichtbar zu machen.

Benjamin Löber war im Sommer 2019 Praktikant der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V. Gegenwärtig studiert er Literaturwissenschaften in Erfurt mit Schwerpunkten auf Raumtheorie und Komparatistik.